Von Herbert Rude

FRANKFURT (Dow Jones)--Das Umfeld für die Aktienmärkte dürfte zunächst noch schwierig bleiben. Auch wenn so genannte Bärenmarkt-Rallys nach dem jüngsten Kursrutsch um 1.700 Punkte jederzeit möglich sind; die Aussichten auf eine generelle Trendwende nach oben sind nach wie vor schlecht. Dazu nötig wäre zum einen ein Ende des - wie es bei HSBC Trinkaus heißt - "beispiellosen Kursverfalls" am Rentenmarkt. Zum anderen müssten die Markttteilnehmer Vertrauen schöpfen, dass die Notenbanken die Weltwirtschaft nicht mit zu starken Zinserhöhungen in eine tiefere Rezession schicken.

Notwendig für beides ist wahrscheinlich ein Dreh in den Inflationserwartungen. Und der ist erst einmal nicht in Sicht. Zwar fallen die Rohstoffpreise mit Ausnahme von Energie und einigen Nahrungsmitteln auf breiter Front. Trotzdem drohen sich die Inflationserwartungen eher zu verfestigen. Bei der Commerzbank heißt es, in Europa dürften die Arbeitskosten bald auf breiter Front kräftiger steigen - was insbesondere die Preise für Dienstleistungen, aber auch die von Waren weiter nach oben treiben werde. Die im Euroraum weiter anziehende Kerninflation lasse selbst bei nicht weiter steigenden Energiepreisen die Inflation in der zweiten Jahreshälfte nur sehr zögerlich zurückgehen: "Auch im vierten Quartal könnte bei der Inflation immer noch eine Sieben vor dem Komma stehen", so die Volkswirte der Commerzbank.

Zudem hängt derzeit immer noch eine Rationierung der Gasverkäufe an die Industrie nach einem russischen Lieferstopp wie ein Damoklesschwert über dem Markt. Verbunden mit steigenden Arbeitskosten und einem weiter nachlassenden Wachstum würden Stillstände in der Industrie voraussichtlich die Gewinnschätzungen deutlich drücken.


   Noch ist die Bewertung günstig - und die Stimmmung ist schon schlecht 

Die Risiken bleiben also hoch. Trotzdem sind die Chancen auf eine kurzfristige Stabilisierung nicht schlecht, falls es nicht zu einem Lieferstopp beim Gas kommt. Noch ist die Bewertung günstig: Nach dem jüngsten Rutsch liegt das Kurs-Gewinn-Verhältnis im DAX nur noch bei etwa 11 und damit deutlich unter dem langfristigen Durchschnitt. Im Euro-Stoxx-50 sieht es ähnlich aus. Zudem sind die Aktienmärkte nun stark überverkauft. Und in den USA hat es seit Beginn der Baisse noch keine nennenswerte Bärenmarkt-Rally gegeben, so dass der Start einer solchen nicht überraschend wäre, auch wegen der bereits sehr schlechten Marktstimmung.

Die jüngste Sentimenterhebung der American Association of Individual Investors (AAII) weist einen extrem hohen Bärenanteil unter den US-Privatanlegern von 58,3 Prozent aus. "Das ist etwa doppelt so hoch wie im historischen Durchschnitt", so HSBC-Marktanalyst Jörg Scherer. Darin sieht er zunächst einmal einen Hoffnungsschimmer für die Märkte. Allerdings warnt er auch, ein Wiedersehen mit dem Jahrestief bei 12.439 Punkten bleibe ein "gleichermaßen bedrohliches wie realistisches Szenario".

Neue deutsche Inflationsdaten kommen erst in der übernächsten Woche an den Markt. Aus Großbritannien und Japan kommen zwar Preisdaten, die beziehen sich aber auf den Mai. Insgesamt ist die Agenda der kommenden Woche wie meistens in der Woche nach einer US-Notenbanksitzung vergleichsweise leer. Im Zentrum stehen zunächst die Einkaufsmanager-Indizes am Donnerstag. Sie dürften leicht zurückgegangen sein, aber immer noch deutlich über der Marke von 50 liegen. Am Freitag wird dann der ifo-Geschäftsklima-Index veröffentlicht, auch er ist voraussichtlich etwas zurückgegangen.

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June 17, 2022 05:48 ET (09:48 GMT)