Von Manuel Priego Thimmel

FRANKFURT (Dow Jones)--Am Sonntag findet die seit Jahren spannendste Bundestagswahl statt, deren Bedeutung weit über Deutschland hinausreicht. Die Regierungsbildung dürfte sich als schwierig und langwierig erweisen. In den Umfragen liegt die SPD seit Wochen knapp vor CDU/CSU, allerdings ist aufgrund der hohen Zahl an noch unentschiedenen Wählern das Ergebnis weiter offen. Aus Börsensicht kritisch wäre lediglich eine rot-rot-grün-geführte Regierung. Eine solche stellte den DAX vor eine Belastungsprobe.

Auf Basis der aktuellen Umfragen erscheint derzeit eine Fortsetzung der großen Koalition, eine Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP, eine Jamaica-Koalition aus CDU/CSU, Grünen und FDP sowie eine Rot-Rot-Grüne-Koalition aus SPD, Linkspartei und Grünen wahrscheinlich. Prognosen über die Wahrscheinlichkeit der jeweiligen Koalitionsmöglichkeiten abzugeben, dürften sich als wenig zielführend erweisen. Für die Aktienmärkte würde lediglich Rot-Rot-Grün ein größeres Problem darstellen - Berenberg spricht von einem "Tail Risk".


   Kapitalabzug unter Rot-Rot-Grün zu erwarten 

Unter Rot-Rot-Grün sind höhere Steuern sowie eine stärkere Regulierung der Wirtschaft bzw. Finanzmärkte zu erwarten. Das mag zwar die Ungleichheit in der Gesellschaft mindern, dürfte aber das Wirtschaftswachstum senken und bei internationalen Investoren nicht gern gesehen werden. Ein Kapitalabzug erscheint wahrscheinlich, was keine guten Nachrichten für den DAX wären. Einen Gewinner könnte die Peripherie der Eurozone stellen, denn einer Transferunion dürfte Rot-Rot-Grün wesentlich aufgeschlossener gegenüberstehen als Regierungen unter Beteiligung von CDU/CSU und FDP.

Sollte das Wahlergebnis die Möglichkeit einer rot-rot-grünen Koalition ausschließen, könnte dies für eine kleine Erleichterungsrally am Montag sorgen. Ansonsten dürfte die Reaktion an der Börse gedämpft ausfallen, stehen doch möglicherweise monatelange Verhandlungen zur Regierungsbildung an. Aber die Unsicherheit über die zukünftige politische Ausrichtung Deutschlands ist nicht der einzige Grund, warum die Volatilität in den kommenden Wochen auf einem erhöhten Niveau bleiben wird.


   Delta ist größeres Problem als Evergrande 

Da wäre etwa die Unsicherheit um Evergrande. Dieses Risiko erscheint allerdings beherrschbar. Ein Zahlungsausfall des hochverschuldeten chinesischen Immobilienkonzerns könnte zwar den dortigen Immobiliensektor in Aufregung versetzen, ein systemisches Risiko für die Finanzmärkte scheint aber von Evergrande nicht auszugehen. Nicht nur ist das Engagement des Bankensektors überschaubar, wichtiger ist, dass Peking bei jeglicher Form von Schuldenrestrukturierung peinlichst darauf achten wird, Ansteckungen in das Finanzsystem zu vermeiden.

Problematischer aus Börsensicht ist die Wachstumseintrübung durch die Ausbreitung der Delta-Variante. Diese kommt langsam auch bei den Unternehmen an. Nachdem die Gewinne im ersten und zweiten Quartal weit über den Markterwartungen gelegen hatten, kommt es nun wegen Lieferkettenprobleme vermehrt zu Gewinnwarnungen. Faurecia, Hella und Nike dürften nur die Spitze des Eisbergs darstellen. Die Situation könnte sich in den virengünstigen Wintermonaten noch verschärfen.


   Inflation dürfte hoch bleiben 

Daneben erweist sich die Inflation hartnäckiger als von vielen erwartet. Dies dürften die in der kommenden Woche anstehenden Verbraucherpreise aus der Eurozone unterstreichen. Die ersten Beobachter schließen nun auch für das kommende Jahr stärkere Preissteigerungen nicht mehr aus. Bislang behandelt die Börse das Phänomen als ein temporäres. Das Risiko besteht, dass sich diese Narrative nicht mehr lange aufrecht erhalten lassen und die Zentralbanken zu einem stärkeren Gegensteuern zwingen. Dies ginge mit einer kräftigen Korrektur an den Börsen einher.

Die Gemengenlage spricht für eine anhaltende Volatilität in den kommenden Wochen. Die Erfahrung der jüngsten Jahre zeigt aber, dass etwaige Kursrückgänge als Einstiegschance von den Anlegern aufgefasst werden sollten. Ein Lehman-Moment wird Evergrande nicht werden, mithin werden Korrekturen an den Börsen überschaubar ausfallen. Angesichts mangelnder Anlagealternativen, erhöhten Inflationsraten und einer mit Blick auf die Anleihemärkte attraktiven Dividendenrendite werden Investoren auch in Zukunft nicht um Aktien herumkommen.

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September 24, 2021 06:49 ET (10:49 GMT)