Von Alistair MacDonald und William Boston

NEW YORK/BERLIN (Dow Jones)--Der Einmarsch Russlands in der Ukraine führt zu neuen Problemen in den bereits angeschlagenen Lieferketten der Welt. Die Kämpfe haben Autofabriken in Deutschland, die auf ukrainische Komponenten angewiesen sind, lahmgelegt und die Versorgung der Stahlindustrie bis nach Japan beeinträchtigt. Zugleich unterbricht der Krieg die Luft- und Landwege, die von entscheidender Bedeutung geworden waren, seit die Pandemie den Seehandel massiv verlangsamt hat.

Der Konflikt bringt auch die umfangreichen Rohstoffexporte der Ukraine und Russlands zum Erliegen und lässt die Preise für Erdöl, Erdgas, Weizen und Sonnenblumenöl in die Höhe schnellen. Die Verschiffung von ukrainischen Häfen, einem wichtigen Korridor für Getreide, Metalle und russische Öllieferungen in die übrige Welt, ist nahezu zum Erliegen gekommen.


   Auch Luftfracht dürfte teurer werden 

Frachtkonzerne und Fluggesellschaften warnen davor, dass die Entscheidung vieler europäischer Staaten, ihren Luftraum für Russland zu sperren, sowie Russlands Vergeltungsmaßnahmen die Kosten für Frachtflüge in die Höhe trieben. Einige Routen könnten möglicherweise unrentabel werden.

Die westlichen Sanktionen - insbesondere das Verbot für einige russische Banken, am globalen Finanzzahlungssystem Swift teilzunehmen - erschweren es vielen Unternehmen, mit dem Land Handel zu treiben, selbst in Sektoren, die nicht von Sanktionen betroffen sind. Es besteht auch die Gefahr, dass Strafen gegen einzelne russische Rohstoffunternehmen verhängt werden oder dass Russland Vergeltungsmaßnahmen ergreift, indem es die Versorgung mit seinen Produkten unterbindet.


   Welt wird "in Mitleidenschaft" gezogen 

Ökonomen und Wirtschaftskapitäne befürchten, dass dies Lieferketten beeinträchtigt, die auf Komponenten und wenig bekannte Rohstoffe aus Russland angewiesen sind, wie zum Beispiel Neongas und Palladium. Beides sind wichtige Bestandteile für die Herstellung von Halbleitern. Wirtschaftszweige wie die Automobilindustrie sind bereits durch einen Nachfrageschub nach der Aufhebung der Pandemiesperren und die anhaltenden Produktionsengpässe gestört worden.

Die Gefahr ausufernder Preise zusätzlich zu der bereits hohen Inflation stellt die zinssensiblen Unternehmen vor eine weitere Herausforderung. Sie müssen bei ihren Geschäftsentscheidungen abwägen, ob die Zentralbanken der Welt ihre jüngsten Maßnahmen zur Straffung der Geldpolitik beschleunigen oder sich zurückhalten, wenn sie ein größeres Risiko für die globale Erholung sehen.

Die Verhängung von Sanktionen gegen Russland durch die USA und ihre Verbündeten "wird nicht nur Russland, sondern die ganze Welt in Mitleidenschaft ziehen", warnt Dawn Tiura, von der Sourcing Industry Group, einer US-Handelsorganisation. Westliche Politiker und Experten sind der Meinung, dass die Sanktionen zwar Auswirkungen auf ihre eigene Wirtschaft haben, den russischen Präsidenten Wladimir Putin jedoch von einer Eskalation in anderen Bereichen abhalten.


   Öl über 100 Dollar, Preise für Aluminium und Palladium steigen 

Vergangene Woche erreichte der Ölpreis zum ersten Mal seit acht Jahren wieder die Marke von 100 US-Dollar pro Barrel. Der Aluminium-Preis ist in diesem Jahr bisher um über 20 Prozent gestiegen, und das von Russland dominierte Palladium hat im gleichen Zeitraum um 26,7 Prozent zugelegt. Die in Chicago gehandelten Weizen-Futures verteuerten sich vergangene Woche um 12 Prozent auf den höchsten Stand seit 2012.

Einige Führungskräfte geben zu bedenken, dass es noch zu früh sei, um zu wissen, wie nachhaltig die Auswirkungen auf die Lieferketten sein werden. Sie argumentieren, dass die Auswirkungen des Krieges und der Sanktionen noch unklar seien und viele Unternehmen auf Lagerbestände von Teilen und Rohstoffen zurückgreifen könnten. Außerdem werde der ukrainische Weizen hauptsächlich nach der im August beginnenden Ernte exportiert. Und: Die Unternehmen haben sich in der Vergangenheit schneller als erwartet von Krisen erholt.


   VW muss Tausende Mitarbeiter in Kurzarbeit schicken 

Die Automobilindustrie, die sich seit langem auf ausgedehnte grenzüberschreitende Lieferketten stützt, war eine der ersten, die die neuen wirtschaftlichen Verwerfungen zu spüren bekam. Leoni, die in der Ukraine Kabelsysteme herstellt, die sie an europäische Automobilhersteller liefert, schloss vergangene Woche ihre beiden Fabriken in der Ukraine und schickte die rund 7.000 Beschäftigten nach Hause.

Am nächsten Tag teilte VW mit, dass sie die in der Ukraine hergestellten Bordnetzsysteme nicht mehr beziehen könne. Deswegen stellen die Wolfsburger die Produktion in den Werken in Zwickau, dem wichtigsten Werk im Rahmen von VWs Vorstoß in die Elektromobilität, und in Dresden für mehrere Tage ein. VW schickt mehr als 8.000 Mitarbeiter in Kurzarbeit, bis die Produktion wieder aufgenommen wird.

Innerhalb weniger Stunden nach dem Einmarsch bildeten Autofirmen, die auf Teile aus China und Osteuropa angewiesen sind, Arbeitsgruppen, um alternative Routen zu planen. "Die Ukraine ist für unsere Lieferkette nicht von zentraler Bedeutung, aber plötzlich haben wir festgestellt, dass dieses Teil fehlt", klagte ein VW-Sprecher.

In der Ukraine sind 22 ausländische Unternehmen wie Leoni ansässig, die 38 Fabriken für die Automobilindustrie betreiben und Kabelbäume, Elektronik, Sitze und andere Produkte herstellen. Das berichtet Ukraineinvest, eine staatliche Einrichtung zur Förderung von Investitionen im Land.

"Wir haben heute kein Problem, aber es ist zu früh, um zu sagen, ob wir ein Problem haben werden", gibt ein Sprecher der Mercedes-Benz Group zu bedenken.

Die Unterbrechung der Rohstofflieferungen aus Russland und der Ukraine könnte eine globale Halbleiterknappheit verschärfen, die die Unternehmen weltweit bereits in Aufruhr versetzt hat. US-Halbleiterhersteller importieren Neongas, die chemische Verbindung Hexafluorcyclobuten und Palladium, die für die Herstellung von Chips verwendet werden, fast ausschließlich aus Russland und der Ukraine, so Techcet. Letztere ist eine Forschungsgruppe, die die Abhängigkeit von kritischen Materialien für die Herstellung analysiert.


   Russen liefern Gros des weltweiten Palladiums 

Das russische Unternehmen MMC Norilsk Nickel fördert 40 Prozent des weltweiten Palladiums, das auch in Katalysatoren zur Verringerung von Fahrzeugemissionen verwendet wird. Außerdem liefert das Unternehmen etwa 11 Prozent der weltweiten Nickelproduktion. die zur Herstellung von Edelstahl und Batterien für Elektrofahrzeuge verwendet wird, so JP Morgan.

Nach Angaben von US-Geologen fördert Russland darüber hinaus etwa 4 Prozent des weltweiten Kobalts, eines weiteren Bestandteils von Batterien, ein Viertel des Vanadiums, das in der Stahlherstellung verwendet wird, und 3,5 Prozent des Kupfers.

Derweil werden die Störungen im Transportwesen immer schlimmer. Mindestens 22 Tanker verstopfen wegen geschlossener Häfen nach Angaben von Trackingunternehmen die Straße von Kertsch, eine wichtige, von Russland kontrollierte Wasserstraße. Griechenland, das bis zu einem Viertel der weltweiten Tankerflotte unterhält, fordert die Reeder auf, ihre Schiffe aus den russischen und ukrainischen Gewässern des Schwarzen Meeres abzuziehen, das für mehrere wichtige Waren einen Engpass bedeutet.

Nach Angaben der Commerzbank entfallen auf Russland und die Ukraine zusammen fast ein Drittel der weltweiten Weizenexporte, 19 Prozent der Maisexporte und 80 Prozent des weltweiten Sonnenblumenöls, und ein Großteil davon fließt durch die derzeit geschlossenen Schwarzmeerhäfen. Die steigenden Getreidepreise verstärken die Besorgnis der meisten Schwellenländer wie Ägypten und Indonesien, die auf diese Lieferungen angewiesen sind und in denen die Lebensmittelpreise bereits spürbar gestiegen sind.


   Zahlreiche Häfen können keine Waren losschicken 

Laut Oleg Soloduchow von der in Kiew ansässigen Schifffahrtsberatungsfirma Charterers hat eine Stahlladung den ukrainischen Hafen Mariupol nicht verlassen können, nachdem sich herausgestellt hatte, dass russische Streitkräfte Minen auf See gelegt hätten. Eine andere Ladung Eisenerz konnte den Hafen von Youjne, östlich von Odessa, nicht verlassen, nachdem die ukrainischen Behörden die Anlage geschlossen hatten, so Soloduchow weiter.

Die Unterbrechungen tragen dazu bei, dass heimische Stahlunternehmen, wie das riesige Werk von Arcelormittal, ihre Rohstoffvorräte nicht aufstocken und ihre Waren exportieren können, so der Stahlriese. Ferrexpo, ein großer Exporteur von Eisenerzpellets für die Stahlindustrie, erklärte, er könne keine Ladungen aus dem Hafen von Pivdennyi im Südwesten der Ukraine abfertigen. Dies veranlasste globale Stahlhersteller wie die japanische Nippon Steel und die österreichische Voestalpine, die diese Pellets kaufen, nach Alternativen zu suchen, so eine mit der Angelegenheit vertraute Person.

Eine Sprecherin von Voestalpine sagte, die Auswirkungen der Situation in der Ukraine seien derzeit schwer abzuschätzen, aber das Unternehmen habe Lagerbestände und werde auf andere Lieferanten zurückgreifen. Marktdaten zeigen, dass Ferrexpo zwar kleiner ist als die größten Eisenerzförderer. Sein Produkt ist aber so spezifisch, dass es nicht einfach ist, sofort einen Ersatz zu finden.

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February 28, 2022 07:21 ET (12:21 GMT)