Von Andrea Thomas

BERLIN (Dow Jones)--Die Verständigung der Europäischen Union auf schärfere Klimaschutzziele bis 2030 hat in der Industrie und bei Umweltverbänden den Ruf nach einem stärkeren Engagement der Bundesregierung ausgelöst. In Teilen der Industrie mehren sich die Sorgen, ob ihre Wettbewerbsfähigkeit erhalten bleiben könne. Umweltverbände kritisieren hingegen, dass es mehr Anstrengungen benötige, um die Erderwärmung zu begrenzen. Zuvor hatten sich die Staats- und Regierungschefs darauf verständigt, die Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent statt 40 Prozent zu reduzieren.


Chemische Industrie fürchtet um Wettbewerbsfähigkeit 

Für den Verband der Chemischen Industrie (VCI) erfordert das höhere EU-Klimaziel zwingend weitere flankierende Schutzmaßnahmen für die Industrie, damit energieintensive Produkte weiter wettbewerbsfähig in Europa hergestellt werden können. Das höhere Klimaziel sei sehr ambitioniert.

"Ob Europa seine hohen Ziele erfüllen kann, hängt stark von einer leistungsfähigen Industrie ab. Denn es sind Branchen wie die Chemie, die Lösungen für den Klimaschutz in fast allen Bereichen liefern", erklärte VCI-Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup. "Zugleich wird die Produktion in der EU für uns immer teurer. Brüssel muss sich daher gut überlegen, wie es die Zukunft der Industrie in Europa sichert."


Energiewirtschaft mahnt zu Abbau von Hemmnissen bei Ökostrom 

Die Energiewirtschaft betonte, dass die Anpassung der Klimaziele große Herausforderungen für den Sektor darstellten. "Sie muss Ansporn sein, die Energiewende in allen Sektoren konsequent umzusetzen und gleichzeitig Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit der Energieversorgung im Blick zu behalten", erklärte Kerstin Andreae, Vorsitzende der BDEW-Hauptgeschäftsführung.

Dringender Handlungsbedarf bestehe darin, die notwendigen Investitionen anzustoßen. Hier müsse die Politik "unbedingt" die richtigen Rahmenbedingungen schaffen. Dazu gehörten insbesondere der Abbau von Hemmnissen für den Ausbau Erneuerbarer Energien unter Einbeziehung von natürlichen Kohlenstoffsenken sowie der Aus- und Umbau der Energieinfrastruktur und ein flexibler europäischer Beihilferahmen.


Banken mahnen zu mehr Geschwindigkeit bei Klima-Finanzierung 

Der Bankenverband (BdB) hält die Klimaziele der EU für richtig. Allerdings könnten die kräftig angehobenen Ziele nur erreicht werden, wenn man deutlich an Geschwindigkeit zulege. Dabei gehe es auch um den Zugang zur Finanzierung für die geplanten Klimaschutzmaßnahmen.

"Mehr Klimaschutz geht nur mit den Banken. Und hier müssen wir bei der Sustainable Finance-Agenda endlich konkreter werden", forderte BdB-Hauptgeschäftsführer Christian Ossig. "Wir Banken wüschen uns von der Politik mehr Mut und Entschlossenheit, um schnell mehr Kapital in den klimafreundlichen Umbau der Wirtschaft zu lenken."


Schärferes Klimaziel laut DIW wichtig für die Wirtschaft 

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) sieht in dem verschärften Klimaziel einen wichtigen Erfolg für Europa und für die Wirtschaft.

"Die Entscheidung zu dem lange diskutierten Klimaziel war dringend notwendig für die Ausgestaltung der nationalen Corona-Recovery-Pakete und der Gesetzesinitiativen im Europäischen Green Deal", erklärte DIW-Klimapolitikexperte Karsten Neuhoff.

Mit der Einigung komme die EU damit Investitionen und Jobs in einer klimaneutralen Industrieproduktion, erneuerbaren Stromerzeugung, Elektromobilität auf Straße und Schiene und Wärmewende im Gebäudesektor einen großen Schritt näher.


Ausbauziele für Ökostrom müssen angepasst werden 

Für die Denkfabrik Agora Energiewende kommen die EU-Klimaziel 2030 gerade noch rechtzeitig, um die schärferen Ziele bei der geplanten EEG-Novelle zum Ökostrom-Ausbau zu berücksichtigen. Deutschland müssen nun bis 2030 seine Emissionen um mindestens 65 Prozent statt wie bisher geplant um 55 Prozent senken. Daher müssten mehr Ökostrom produziert werden.

"Erreichen lässt sich das vor allem, indem bis 2030 das letzte Kohlekraftwerk abgeschaltet wird und zugleich das Tempo beim Ausbau der Erneuerbaren Energien verdreifacht wird", erklärte Patrick Graichen, Direktor Agora Energiewende. "Wir brauchen mindestens 70 Prozent Erneuerbare Energien bis 2030 und das bei einem wachsenden Stromverbrauch. Das geht nur, wenn schon ab nächstem Jahr deutlich mehr Solar- und Windkraftwerke gebaut werden als im Entwurf zum EEG bisher geplant." Daher müsse die große Koalition sofort die Ausschreibungsmengen im EEG erhöhen.


EU-Ziele reichen laut Umweltorganisation nicht aus 

Die Entwicklungs- und Umweltorganisation Germanwatch begrüßt zwar die Einigung als solche, hält die Klimaziele selbst aber nicht für ausreichend, um das globale Erderwärmungsziel zu erreichen. "Das Klimaziel wird verwässert, wenn die nötigen Emissionsreduktionen künftig mit der natürlichen Entnahme von CO2 aus der Luft durch Wälder, Moore und Landwirtschaft einfach verrechnet werden dürfen", so Christoph Bals von Germanwatch.

Zwar könne sich die EU morgen beim UN-Gipfel zum Jubiläum des Pariser Abkommens mit diesem Klimaziel sehen lassen. Aber gemessen am Ziel des Pariser Abkommens, die globale Erwärmung möglichst auf 1,5 Grad zu begrenzen, sei es noch zu wenig. Germanwatch vermisst zudem mehr Engagement für Klimapartnerschaften mit wichtigen Schwellenländern, um einen ambitionierten Klimaschutz zum Beispiel in Indien, Südafrika und Indonesien über technologische und finanzielle Zusammenarbeit zu ermöglichen.

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December 11, 2020 07:56 ET (12:56 GMT)