Von Jenny Strasburg und Joe Wallace

LONDON (Dow Jones)--Russlands Drosselung der Erdgaslieferungen nach Europa gefährdet die Bemühungen des Kontinents, genügend Brennstoff für den nächsten Winter auf Vorrat zu speichern. In Energiekreisen sind die Sommermonate in Europa als "Tankzeit" bekannt. Die geringere Nachfrage nach Erdgas ermöglicht es dem Kontinent, sein riesiges unterirdisches Speichernetz für die kälteren Monate aufzufüllen, in denen der Verbrauch ansteigt. Bei den Speichern dreht es sich um Salz- und Porensteinkavernen, Aquifere sowie erschöpfte Gasfelder. Die diesjährigen Bemühungen, diese Speicher wieder aufzufüllen, sind zu einem vielbeachteten Gradmesser für die Energiesicherheit Europas geworden.

Die Aufgabe ist um einiges schwieriger geworden, nachdem Russland vergangene Woche die Lieferungen durch seine Hauptpipeline nach Europa um fast die Hälfte gekürzt hat. Als Reaktion darauf hat Deutschland am Wochenende eine Reihe von Sofortmaßnahmen ergriffen und angekündigt, Kohlekraftwerke wieder in Betrieb zu nehmen und Unternehmen Anreize zur Senkung des Erdgasverbrauchs zu bieten. Die Gasflüsse durch die Nord-Stream-Pipeline, die Hauptdurchgangsstraße für russisches Gas nach Europa, sind Analysten zufolge gegenüber dem für diese Jahreszeit üblichen Niveau stark zurückgegangen. Wenn sie auf dem derzeitigen Niveau bleiben, wird Europa Schwierigkeiten haben, bis November 70 Prozent der Speicherkapazität zu erreichen, so Katerina Filippenko, Chefanalystin für globale Gasforschung beim Beratungsunternehmen Wood Mackenzie.


   Brand in US-Exportanlage erschwert Europas Situation 

Die EU hat eigentlich das Ziel, bis Anfang November eine Speicherkapazität von 80 Prozent zu erreichen. Die EU-Mitgliedstaaten haben Pläne ausgearbeitet, um Gas zum Heizen von Häusern zu rationieren oder die Versorgung von Fabriken, die Düngemittel und andere energieintensive Produkte herstellen, zu drosseln, wenn sie dieses Ziel nicht schaffen. Ein kalter Winter im nächsten Jahr könnte die Vorräte schneller als normal erschöpfen, so dass ein regelrechter Engpass droht. Ein wichtiger US-Lieferant von Flüssigerdgas in Texas teilte mit, dass ein kürzlich aufgetretener Brand die dortige Exportanlage bis Ende des Jahres außer Betrieb setzen wird, wodurch die geplanten Lieferungen nach Europa unterbrochen werden.

In der Vergangenheit hat Europa sein Gasspeichernetz genutzt, um sich vor Engpässen im Winter zu schützen, aber auch um Nachfrageschwankungen auszugleichen, indem es Gas für die Zeit speicherte, in der Haushalte und Büros die Heizung hochdrehten. "In einem normalen Jahr ist das ein guter Puffer. Und in einem normalen Jahr wäre es russisches Gas", so Ben McWilliams, Analyst bei der in Brüssel ansässigen Denkfabrik Bruegel. Nach Angaben der EU verfügen die europäischen Mitgliedstaaten zusammen über eine Speicherkapazität von 1.100 Terawattstunden oder rund 100 Milliarden Kubikmeter, die sich auf etwa 160 unterirdische Anlagen in 18 Ländern verteilen. Der für die kälteren Monate gelagerte Brennstoff deckt den EU-Daten zufolge in der Regel 25 bis 30 Prozent des Winterbedarfs. Mehr als 70 Prozent dieser unterirdischen Speicherkapazitäten sind in Deutschland, Italien, Österreich, den Niederlanden und Frankreich.


   EU verfehlt womöglich Gas-Speicherziele 

Um die Versorgung für den Winter sicherzustellen, einigten sich die EU-Vertreter im Mai auf Regeln, nach denen die unterirdischen Speicher in der EU bis November zu 80 Prozent gefüllt sein müssen. Nach Angaben des Branchenverbands Gas Infrastructure Europe waren die EU-weiten Speicher am Wochenende zu etwa 54 Prozent gefüllt. Das ist zwar mehr als die 44 Prozent, die im vergangenen Jahr zu diesem Zeitpunkt erreicht wurden, aber Analysten sagen, dass die neuen Versorgungsengpässe das Ziel der 80 Prozent bis zum Anfang November gefährden. Die Preise für Erdgas in Nordwesteuropa sind in der vergangenen Woche um mehr als 50 Prozent emporgeschnellt und liegen damit mehr als viermal so hoch wie vor einem Jahr. Laut Stuart Joyner, einem Energieanalysten des Maklerunternehmens Redburn, wird der Markt eher durch die Angst vor Engpässen als durch den unmittelbaren Bedarf beeinflusst. "Dies zeigt, dass wir bei der europäischen Gasversorgung wirklich keinen Spielraum für Fehler haben."

Während der kalten Jahreszeit 2020-21, von Oktober bis März, wurde nach Angaben von Gas Infrastructure Europe mehr Gas aus den europäischen Untergrundspeichern entnommen als in jedem Jahr zuvor - 720 Terawattstunden. Das bedeutete, dass die EU den Winter mit ungewöhnlich niedrigen Speichervolumina beendete und aufholen musste, was den Druck auf den bereits angespannten globalen Markt noch erhöhte. Vergangene Woche drosselte der staatliche russische Gasexporteur Gazprom PJSC die täglichen Lieferungen über die Nord Stream-Pipeline auf etwa 40 Prozent ihrer vollen Kapazität, so Analysten von RBC Capital Markets. Gazprom, das von dem langjährigen Kreml-Verbündeten Alexej Miller geleitet wird, machte Wartungsarbeiten eines deutschen Unternehmens für die Verzögerung verantwortlich.


   EU saugt das Gas auf dem Weltmarkt auf 

EU-Vertreter, Energieexperten und Analysten wiesen dies zurück und erklärten, die Drosselung ziele darauf ab, die Entschlossenheit der EU zu testen, Russland mit Sanktionen für seinen Einmarsch in der Ukraine zu bestrafen. Sie argumentieren, Moskau könne die Pipeline jederzeit vollständig abschalten. Die Verknappung des Angebots in Europa wird globale Auswirkungen haben, da Gas auf den Kontinent gesaugt wird und die Preise in Asien und anderswo in die Höhe treibt, so James Huckstepp, Analyst bei S&P Global Commodity Insights. Derweil sind die EU und Großbritannien in diesem Jahr zum bevorzugten Ziel für US-Gasexporte in verflüssigter Form (LNG) geworden. Als die Preise im Herbst sprunghaft anstiegen, wurden LNG-Tanker, die nach Asien unterwegs waren, umgeleitet, um den ausgehungerten europäischen Markt zu versorgen. Seitdem hat sich die Lage kaum entspannt. Nach Angaben der US-Energie-Informations-Behörde entfielen in den ersten vier Monaten des Jahres 2022 rund 74 Prozent der US-amerikanischen LNG-Exporte auf Europa.

Unter den europäischen Ländern ist Deutschland besonders anfällig für Engpässe bei der Gasversorgung. In weiten Teilen Europas ist der tägliche Gasbedarf im Winter etwa dreimal so hoch wie im Sommer, aber Deutschlands riesiger Binnenmarkt und die starke Abhängigkeit von Gas für Heizzwecke können zu weitaus dramatischeren Schwankungen führen. Dabei steige die Nachfrage in der kalten Jahreszeit um das Sechsfache an, so Graham Freedman, ein europäischer Gasanalyst von Wood Mackenzie. Sollte eine Rationierung notwendig werden, schützten die Regierungen zuerst die Haushalte, so Analysten. "Sie wollen nicht, dass die Menschen in ihren Häusern frieren", meint Freedman. Das wirtschaftliche Risiko besteht darin, dass große industrielle Gasverbraucher ihren Verbrauch entweder stark reduzieren oder ganz stillgelegt werden. Italien, das von milderen Wintern als seine nördlichen Nachbarn profitiert, ist nach Ansicht der JP-Morgan-Analysten in einer besseren Position als Deutschland, um alternative Lieferungen über Pipelines und per Schiff zu erhalten. Italien gehörte vor dem Krieg zu den größten Importeuren von russischem Gas und hat seine Abhängigkeit seit der Invasion im Februar drastisch reduziert.

(Mitarbeit: Caitlin Ostroff)

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June 21, 2022 03:25 ET (07:25 GMT)