Kiew/Nowoasowsk (Reuters) - Nach Monaten erbitterter Kämpfe um Mariupol gibt die Ukraine dort ihre letzte Bastion auf und überlässt damit russischen Truppen die Kontrolle über die weitgehend zerstörte Hafenstadt.

Das ukrainische Militär kündigte am Dienstag an, eine komplette Evakuierung des Asowstal-Werks anzustreben. Die Anlage war zum Sinnbild für den Widerstand in Mariupol geworden, weil sich dort wochenlang ukrainische Kämpfer verschanzt hatten. Nachdem zuletzt bereits Zivilisten, die dort ebenfalls ausgeharrt hatten, in Sicherheit gebracht worden waren, folgten laut der Ukraine nun mehr als 250 Kämpfer. Über die Lage an der Front informierte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nach eigenen Angaben Bundeskanzler Olaf Scholz. Russland-Sanktionen und das Streben der Ukraine in die EU waren demnach auch Themen.

In dem Asowstal-Werk sollen rund 600 Kämpfer ausgeharrt haben. Laut der ukrainischen Regierung wurden nun 211 in den Ort Oleniwka gebracht, der in der von pro-russischen Separatisten kontrollierten Region Donezk liegt. Vize-Verteidigungsministerin Anna Maljar erklärte, 53 verwundete Soldaten seien in ein Krankenhaus in der russisch kontrollierten Stadt Nowoasowsk gebracht worden. Für alle Evakuierten sei ein möglicher Gefangenenaustausch mit Russland vorgesehen.

"Wir hoffen, dass wir das Leben unserer Leute retten können", sagte Selenskyj. "Die Ukraine braucht ukrainische Helden, die am Leben sind." In Nowoasowsk trafen fünf Busse mit ukrainischen Soldaten ein. Aus einem mit dem für russische Militärfahrzeuge typischen "Z" markierten Bus wurde auf einer Trage ein Mann hinaus transportiert, dessen Kopf dick mit Verband umwickelt war. In dem Bus lagen Verwundete auf Tragen in drei Etagen.

SEPARATISTEN: KÄMPFER AUS DEM STAHLWERK HABEN SICH ERGEBEN

Die von Russland unterstützten Separatisten sprachen von 256 Kämpfern aus dem Stahlwerk, die "sich ergeben" hätten. 51 von ihnen seien verletzt. Die Evakuierung des Stahlwerks markiert nicht nur das Ende eines der bisher verlustreichsten Kämpfe des Kriegs, sondern auch einen symbolträchtigen Verlust für die Ukraine. Deren Soldaten haben zwar zuletzt Geländegewinne rund um Charkiw verzeichnet. Doch die Kämpfe gingen am Dienstag auf breiter Front weiter.

So meldete das Büro von Präsident Selenskyj massiven Dauerbeschuss der gesamten Frontlinie rund um Donezk, sowie Raketenangriffe in der Region Tschernihiw. Russische Attacken gab es demnach auch rund um die Hauptstadt Kiew sowie bei Lwiw im Westen nahe der polnischen Grenze. Die Nachrichtenagentur Interfax berichtete unter Berufung auf das Moskauer Verteidigungsministerium, bei Lwiw seien Waffenlieferungen der USA und aus Europa getroffen worden.

In der westrussischen Provinz Kursk an der Grenze zur Ukraine geriet unterdessen nach Angaben der Behörden ein Dorf unter ukrainischen Beschuss. Russische Grenzsoldaten hätten das Feuer erwidert, um den Beschuss zu stoppen. Informationen zum Kampfgeschehen können oft unabhängig nicht bestätigt werden. Russland spricht bei seinem Vorgehen in der Ukraine von einer "Spezialoperation". Der russische Einmarsch in der Ukraine hat den Westen enger zusammenrücken lassen und zuletzt Schweden und Finnland dazu bewogen, ihre jahrzehntelange Neutralität aufzugeben und eine Aufnahme in die Nato zu beantragen.

LUXEMBURG: TÜRKEI WILL ZUGESTÄNDNISSE BEI NATO-ERWEITERUNG

Nach zunächst vagen Drohungen aus Moskau mit Blick auf eine Norderweiterung der Verteidigungsallianz zeigte sich nach Präsident Wladimir Putin am Dienstag auch Verteidigungsminister Sergej Lawrow gelassen. Ein Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands mache vermutlich keinen großen Unterschied, weil beide Länder schon lange an Nato-Manövern beteiligt gewesen seien, sagte Lawrow. Putin hatte erklärt, Russland habe mit den beiden skandinavischen Ländern keine Probleme. Er werde aber auf den Ausbau der militärischen Infrastruktur dort reagieren.

Im Nato-internen Ringen um die Aufnahme von Schweden und Finnland richtete sich der Blick erneut auf die Türkei. Am Wochenende hatte sich das Nato-Land zwar offen für einen Beitritt Finnlands und Schwedens gezeigt, knüpfte dies aber an Bedingungen. Dazu gehöre ein anderer Umgang mit den als Terroristen gewerteten Personen. Einer Aufnahme der beiden Länder müssten alle Nato-Mitglieder zustimmen, also auch die Türkei. Am Montag hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seine Vorwürfe an Schweden und Finnland mit Blick auf Gruppen wie der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) wiederholt.

Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn sagte im ZDF, Erdogan gehe es nicht wirklich um die von ihm vorgebrachten Einwände wegen der angeblichen Unterstützung terroristischer Gruppen. Vielmehr wolle die Türkei Zugeständnisse zum Kauf von US-Kampfjets erreichen. "Erdogan will den Preis steigern." Er setze darauf, dass ein Kauf von US-Kampfjets nun doch noch zustande komme, der nach der Anschaffung eines russischen Luftabwehrsystems durch die Türkei von der Regierung in Washington gestoppt worden war. Ein solcher Kampfjet-Verkauf an die Türkei sei in den USA jetzt wieder in der Diskussion.

Nach dem Gespräch mit Scholz schrieb Selenskyj auf Twitter, es sei auch um eine mögliche Verschärfung der Sanktionen gegen Russland und die Aussicht auf Frieden gegangen. Es seien "produktive Gespräche" gewesen. Sein Land setze auf dem Weg zur EU-Vollmitgliedschaft weiterhin auf die Hilfe Deutschlands.