Von Mari Novik und Jennifer Hiller

NEW YORK (Dow Jones)--Dem Geschäft mit der Windenergie steht womöglich eine veritable Krise ins Haus. Daran ändert auch nichts, dass Regierungen rund um den Globus Windkraft als Schlüssel zur Erreichung ihrer Klimaziele und zur Steigerung der Stromversorgung ansehen. Nach monatelangen Warnungen vor steigenden Preisen und logistischen Engpässen kündigen Entwickler und potenzielle Käufer von Windenergie-Verträge, legen Projekte auf Eis und verschieben Investitionsentscheidungen. Sowohl bei Onshore- als auch bei Offshore-Projekten häufen sich die Rückschläge, doch bei Letzteren sind die Probleme noch akuter. In den vergangenen Wochen wurden in den USA und Europa mindestens zehn Offshore-Projekte mit einem Gesamtvolumen von rund 33 Milliarden US-Dollar verzögert oder gerieten auf andere Weise ins Stocken. "Im Moment erleben wir die erste Krise der Branche", berichtet Anders Opedal, seines Zeichens Chef von Equinor. Der norwegische Energieriese und BP entwickeln drei Windparks vor der Küste von New York, um rund zwei Millionen Haushalte mit Strom zu versorgen. Im Juni teilten sie dem Staat jedoch mit, dass die Strompreise neu verhandelt werden müssten, da die Projekte andernfalls keine Finanzierung erhielten.

Das Aufschieben von Projekten, die 11,7 Gigawatt erzeugen könnten - genug, um ungefähr alle Haushalte in Texas und noch einige mehr mit Strom zu versorgen - dürfte die Offshore-Windkraftziele für 2030 außer Reichweite bringen, sowohl für das Weiße Haus als auch für europäische Regierungen. Die Technologie gilt als entscheidend für die Energiewende hin zu einer saubereren Stromversorgung und weg von fossilen Brennstoffen. Die USA verfügen über den größten Onshore-Windkraftmarkt außerhalb Chinas, aber nur sieben Turbinen produzieren Strom auf See. US-Präsident Joe Biden hofft, die Offshore-Industrie anzukurbeln und strebt in diesem Jahrzehnt den Ausbau von 30 Gigawatt Offshore-Windenergie an. "Sie haben noch nichts gesehen", prahlte Biden vergangenen Monat über die Pläne seiner Regierung, weitere Windprojekte voranzutreiben, einschließlich der ersten Auktion im Golf von Mexiko später in diesem Monat. Die starken Winde und flachen Gewässer Europas haben die Offshore-Windenergie zu einer der am schnellsten wachsenden erneuerbaren Technologien gemacht. Doch ein Kostenanstieg von 40 Prozent stoppte kürzlich ein riesiges Projekt in Großbritannien, einem weltweit führenden Offshore-Windkraftprojekt, während Entwickler zwei Investitionsentscheidungen in der Ostsee hinausschoben.


   Branche ächzt unter Kosten 

Drei weitere Projekte in der Nordsee mit geplanten Ausgaben von insgesamt rund 19 Milliarden Dollar könnten sich möglicherweise verzögern oder ihre Konditionen ändern, gibt Analyst Peter Lloyd-Williams von Westwood Global Energy zu bedenken. "Wenn die solidesten Projekte in den reifsten Märkten zu scheitern beginnen, ist das ein großes Warnsignal." Und die Liste der Probleme ist lang: Inflation, Rückstau in der Lieferkette, steigende Zinsen, lange Genehmigungs- und Netzanbindungsfristen. Das zunehmende Tempo der Energiewende hat eine Spirale ausufernder Kosten losgetreten. Avangrid, eine US-Tochtergesellschaft des spanischen Energieversorgers Iberdrola, hat diesen Monat zugestimmt, 48 Millionen US-Dollar zu zahlen, um aus einem Offshore-Windenergie-Deal in Massachusetts auszusteigen. Diesen war das Unternehmen im September 2021 eingegangen, als die Aussichten rosiger waren.

"Was passiert ist, ist natürlich, dass sich die Welt dramatisch verändert hat", meint Ken Kimmell, Vizepräsident für Offshore-Windentwicklung bei Avangrid. Der Krieg in der Ukraine ließ die Preise für Stahl und andere Güter steigen, während die europäischen Länder gleichzeitig ihre Pläne für Offshore-Windkraft beschleunigten. Eine Reihe von Zinserhöhungen habe die Kreditaufnahme teurer gemacht, so Kimmell.

Wenn Massachusetts im Januar eine weitere Ausschreibungsrunde für Offshore-Windenergie startet, erwartet Kimmell, dass die Verträge dort - und in anderen Bundesstaaten - besondere Klauseln enthalten. Diese betreffen wohl mögliche Kostensteigerungen oder -rückgänge. Kimmell bezeichnet die Probleme der Branche als "Bremsschwelle, nicht als Backsteinmauer". Ein weiteres von Shell, Engie und EDP Renewables unterstütztes Projekt in Massachusetts verhandelt derzeit mit Energieversorgern, nachdem es erklärt hatte, man wolle die Stromlieferungsverträge kündigen und erneut ausschreiben. Derweil zog sich Rhode Islands größter Energieversorger aus einem Offshore-Projekt zurück. Führungskräfte beteuern, die Herausforderungen seien lediglich kurzfristiger Natur. Laut einer aktuellen Studie der University of California in Berkeley könnte Offshore-Windkraft bis 2050 bis zu einem Viertel des US-Stroms liefern, ohne die Großhandelsstromkosten zu beeinflussen. Neue Auktionen, bei denen Entwickler die jüngsten Kostensteigerungen berücksichtigen können, ziehen weiterhin Bieter an. In Europa haben die Energiekonzerne BP und Totalenergies im Juli Entwicklungsrechte in der Nordsee im Wert von 14 Milliarden Dollar erhalten.


   Siemens Energy kommt auf sattes Auftragspolster 

Mehrere US-Küstenstaaten hoffen, zu Zentren für die neue inländische Produktion von Offshore-Windkraftkomponenten zu avancieren. Sie wollen sich einen Anteil an der neuen Branche sowie einen Teil von 1 Billion Dollar Steueranreizen und Krediten des Weißen Hauses für eine Produktion mit grüner Energie sichern, die im Rahmen des IRA-Gesetzes verteilt werden. Für Lieferanten, die durch Verzögerungen verunsichert sind, reicht es nicht aus, dass sie einfach nur einen langen Atem aufbringen sollen. "Im Moment ist es frustrierend", klagt Morten Dyrholm, Senior Vice President bei Vestas, dem größten westlichen Turbinenhersteller. "Wir können nicht einfach loslegen und viele Fabriken bauen, wenn wir keine klaren Investitionssignale von den Entwicklern sehen." Auch an Land ist es unruhig geworden. Nach Angaben der American Clean Power Association (ACPA) halbierten sich die neuen Windkraftanlagen an Land im ersten Quartal 2023 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum, es ist das langsamste Quartal seit vier Jahren.

Die Hersteller kämpfen mit der Rentabilität, da sie immer größere und fortschrittlichere Maschinen liefern, die bei der Stromerzeugung effizienter sind. Jetzt sagen einige, dass sie Probleme mit der Abnutzung haben. "Wir haben sowohl Offshore als auch Onshore Schwierigkeiten", räumt Tim Proll-Gerwe, Sprecher von Siemens Energy, ein. Das Unternehmen hatte zuvor erklärt, dass die Behebung von Qualitätsproblemen im Zusammenhang mit den Flaggschiff-Onshore-Turbinen seiner Tochtergesellschaft bis zu 1,1 Milliarden Dollar kosten könnte. Jetzt stockte es diese Schätzung massiv auf etwa 1,75 Milliarden Dollar auf. Siemens Energy, das mit Verlusten in Höhe von etwa 4,5 Milliarden Euro in diesem Jahr rechnet, gab an, dass es einen rekordhohen Auftragsbestand habe, da die Nachfrage nach Turbinen stark zulege. Der Rotorblattlieferant TPI Composites, der Vereinbarungen mit mehreren Windkraftherstellern hat, gab im Vormonat eine Gewinnwarnung heraus, dass höhere Inspektions- und Reparaturkosten anstehen.

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August 07, 2023 11:16 ET (15:16 GMT)