Washington/Larnaka/Berlin (Reuters) - Angesichts der katastrophalen Zustände für die Menschen im Gazastreifen wollen die EU und die USA Hilfslieferungen über See starten.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte am Freitag auf der Mittelmeerinsel Zypern, dass von dort ein Seekorridor für Hilfsgüter eingerichtet werde - möglicherweise schon am Wochenende. US-Präsident Joe Biden kündigte den Bau eines provisorischen Hafens an der Küste des dicht besiedelten Gazastreifens an. Hintergrund ist wachsende Kritik der USA, EU und arabischer Staaten, dass Israel die Zivilbevölkerung in dem abgeriegelten Palästinenser-Gebiet nicht ausreichend über seine Grenzübergänge versorge. Nach UN-Angaben droht mindestens 576.000 Menschen - einem Viertel der Bevölkerung von Gaza - eine Hungersnot.

"Wir stehen kurz davor, diesen Korridor zu eröffnen, hoffentlich diesen Samstag/Sonntag, und ich freue mich sehr, dass heute ein erstes Pilotprojekt gestartet wird", sagte die EU-Kommissionspräsidentin an der Seite des zyprischen Präsidenten Nikos Christodoulides. Beteiligt seien die EU, die Vereinigten Arabischen Emirate und die USA. Zu der Ankündigung Bidens, einen provisorischen Hafen zu bauen, äußerte sich von der Leyen nicht direkt. Es blieb zunächst unklar, wo genau die Hilfsgüter im Gazastreifen angeliefert werden könnten.

Die EU hatte vor mehr als einem Jahrzehnt Pläne zur Sanierung des alten Hafens von Gaza, die jedoch scheiterten, weil Israel den Ort später bombardierte. Im Rahmen der neuen Vereinbarung soll die Fracht auf Zypern von einem Team, dem auch israelische Beamte angehören, Sicherheitsinspektionen unterzogen werden. Auch Biden hatte angekündigt, dass Israel mit einbezogen werde. Das EU-Land Zypern hatte bereits im Januar einen Kontrollmechanismus getestet, als britische und zyprische Hilfsgüter für den Gazastreifen nach Ägypten geschickt wurden.

WIRD ISRAEL AUS DER VERANTWORTUNG FÜR HILFE ENTLASSEN?

Zuletzt war zudem damit begonnen worden, Hilfsgüter aus der Luft abzuwerfen. Dies wird jedoch nicht als ausreichend angesehen. Mit einem provisorischen Hafen an der Küste des Gazastreifens könnten per Schiff mehr Hilfsgüter geliefert werden. Biden ließ offen, wo ein Pier gebaut werden könnte. Er betonte, dass keine US-Soldaten im Gazastreifen selbst eingesetzt würden.

In der EU war die Einrichtung eines Seekorridors für Hilfsgüter nicht unumstritten. "Einige argumentierten, dass Israel nun aus seiner Verantwortung entlassen wird, nach dem Einmarsch der israelischen Armee in den Gazastreifen selbst für die Menschen zu sorgen", sagt ein EU-Diplomat. Die Hilfe sei aber jetzt vordringlich.

Die israelische Armee war nach dem Hamas-Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023 in den Gazastreifen eingedrungen, um die radikal-islamische Organisation nach Angaben von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zu eliminieren. Die palästinensische Zivilbevölkerung floh darauf vor allem nach Süden in Richtung Rafah an der Grenze zu Ägypten. Am Freitag gab es erneut Mahnungen, dass die israelische Armee auf einen großangelegten Angriff auf Rafah verzichten solle.

UN: SIEDLUNGSBAU MACHT PALÄSTINENSER-STAAT QUASI UNMÖGLICH

Israel wird nicht nur die mangelhafte Versorgung der palästinensischen Zivilbevölkerung vorgeworfen. Es soll auch den Siedlungsbau im besetzten palästinensischen Westjordanland nach UN-Angaben im Rekordtempo vorangetrieben haben. Der UN-Menschenrechtsbeauftragte Volker Türk legte am Freitag einen Bericht vor, dem zufolge Israel in den zwölf Monaten bis Ende Oktober 24.300 neue Wohneinheiten bauen ließ. Das seien so viele wie noch nie, seit 2017 mit den Aufzeichnungen begonnen wurde. Zudem habe die Gewalt jüdischer Siedler gegenüber den Palästinensern dramatisch zugenommen. Seit dem 7. Oktober seien im Westjordanland mehr als 400 Palästinenser getötet worden. Im Gazastreifen wurden in dieser Zeit nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums mehr als 30.000 Palästinenser getötet.

Der 16-seitige Bericht soll in den kommenden Wochen dem UN-Menschenrechtsrat in Genf vorgestellt werden. Von der diplomatischen Vertretung Israels in Genf gab es zunächst keine Stellungnahme. Türk betonte, durch die beschriebenen Entwicklungen könne jede praktische Möglichkeit zur Errichtung eines existenzfähigen Palästinenser-Staates zunichtegemacht werden. Die USA, die EU und die arabischen Staaten dringen auf einen Zweistaaten-Lösung für Israelis und Palästinenser. Der israelische Ministerpräsident Netanjahu, der ein Bündnis mit ultranationalistischen und religiösen Parteien eingegangen war, lehnt dagegen einen palästinensischen Staat ausdrücklich ab. Die USA und Deutschland unterstützen Israel dennoch auch militärisch.

(Bericht von Jonathan Landay, Steve Holland, Michele Kambas, Emma Farge, Andreas Rinke; redigiert von Elke Ahlswede.; Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)