Von Jon Sindreu

LONDON (Dow Jones)--Bei den europäischen Aktien müssen die Anleger über gegensätzliche Signale nachdenken. Einerseits geht es der Wirtschaft nicht annähernd so schlecht wie befürchtet. Andererseits ist sich auch die Europäische Zentralbank (EZB) dessen bewusst. Der zuletzt veröffentlichte Einkaufsmanagerindex für die Eurozone erreichte im Dezember ein Viermonatshoch und übertraf damit die Erwartungen der Analysten. Obwohl der Index immer noch den sechsten Monat in Folge eine Abschwächung der Wirtschaftstätigkeit anzeigt, hat sich das Tempo des Rückgangs seit November verlangsamt. Entscheidend ist, dass Deutschland die Erholung anführt, das wegen der früheren Abhängigkeit seiner Industrie von russischem Erdgas in einer besonders prekären Lage feststeckte.


Flache Rezession 

Nach der Median-Prognose von Factset wird die Wirtschaft der Eurozone in diesem Quartal um 0,4 Prozent und im nächsten Quartal um weitere 0,3 Prozent schrumpfen. Das bedeutet: Der Währungsblock ist wahrscheinlich bereits in einer flachen Rezession. Dennoch scheinen die jüngsten Zahlen darauf hinzudeuten, dass der Abschwung noch milder ausfallen könnte als allgemein angenommen.

Da die entwickelten Volkswirtschaften stark miteinander verflochten sind, besteht sogar die Möglichkeit, dass Großbritannien, wo eine lange Rezession erwartet wird, positiv überraschen könnte. Nachdem der Euro-Stoxx-50 jahrelang deutlich hinter dem S&P-500 zurückgeblieben war, hat er sich seit September um 10 Prozent verbessert, während die US-Aktien um 1 Prozent nachgaben. In diesem Zeitraum hat sich auch der US-Dollar von seinem Höchststand entfernt und 6 Prozent seines Wertes gegenüber dem Euro verloren.


Europa hat trotz Kälteeinbruchs Gasspeicher zu 85 Prozent gefüllt 

Fairerweise muss man sagen, dass die Risiken in Europa nach wie vor höher sind als in den USA, wo die Haushalte während der Pandemie weitaus mehr überschüssige Ersparnisse angesammelt haben und die Energieunabhängigkeit größer ist. Insgesamt sieht es jedoch so aus, als ob die von den europäischen Regierungen bereitgestellten Hilfen zum Ausgleich höherer Energierechnungen die makroökonomischen Schmerzen abfedern.

Der Wettlauf der Region um die Auffüllung ihrer Gasreserven, der die Großhandelspreise im Sommer in die Höhe trieb, hat inzwischen dazu geführt, dass die europäischen Gasspeicher zu 85 Prozent gefüllt sind. Auch wenn vieles davon abhängt, ob die derzeitige Kältewelle anhält, scheint die Wahrscheinlichkeit, dass Europa in diesem Winter die Energie ausgeht, gering zu sein, auch da die Bemühungen um eine Drosselung der Gasnachfrage Früchte getragen haben.


Gasverbrauch sinkt 

Nach Angaben der Brüsseler Denkfabrik Bruegel ist der Verbrauch in der EU im November gegenüber dem Vorjahr um 23 Prozent gesunken, was den Zielen der Behörden entspricht. Die Unternehmen haben sich der Effizienz verschrieben. In Deutschland, wo die Produktion des verarbeitenden Gewerbes um etwa 1 Prozent zurückgegangen ist, hat die Industrie ihren Gasverbrauch um satte 32 Prozent gedrückt.

Also könnten die Aktien der Eurozone weiter steigen. Und da die Analysten ihre Gewinnerwartungen für 2023 in den USA stärker gesenkt haben, hat die jüngste Rallye im Euro-Stoxx-50 die Bewertungen im Vergleich zum S&P-500 nicht verbessert. Analysten der Bespoke Investment Group weisen darauf hin, dass der Sentix-Indikator für die Anlegerstimmung in der Eurozone im Oktober den tiefsten Stand seit der globalen Finanzkrise erreicht hat. Doch seitdem hat er eine der größten zweimonatigen Erholungen in der Geschichte hingelegt. In der Vergangenheit haben solch plötzliche Verschiebungen oft eine Erholung eingeläutet.


Knackpunkt ist die EZB 

Doch all dies hat einen großen Haken. Die Bestätigung der EZB-Prognosen für eine milde Rezession gibt der Notenbank gute Gründe für eine noch restriktivere Haltung. Am Donnerstag sagte EZB-Präsidentin Christine Lagarde, nachdem sie die Zinssätze um einen halben Prozentpunkt angehoben hatte, dass die weitere Straffung über das hinausgehen würde, was der Markt derzeit einpreist, was die europäischen Aktien belastete.

Die Anleger sehen den Höchststand der Zinsen bei 3,8 Prozent. Das ergibt Sinn: Die Anzeichen für eine stärkere Wirtschaft gehen einher mit Anzeichen für eine Abschwächung der Inflation. Und die aktuell veröffentlichten Einkaufsmanagerindizes deuten darauf hin, dass die Kosten der Unternehmen so langsam wie seit Mai 2021 nicht mehr gestiegen sind. Zudem lässt nunmehr in der Eurozone auch der Lohndruck nach.

Dennoch deuten die EZB-Schritte in diesem Jahr darauf hin, dass sie ihre Drohungen wahr machen wird, sofern keine Katastrophe eintritt. Gute Nachrichten sind immer noch gute Nachrichten für europäische Aktien. Da sich die Zentralbanker jedoch nur auf die Gesamtinflation konzentrieren, sind sie weniger gut, als sie es sein können.

Kontakt zum Autor: konjunktur.de@dowjones.com

DJG/DJN/axw/smh

(END) Dow Jones Newswires

December 16, 2022 10:22 ET (15:22 GMT)