Sollte in diesem zweiten Corona-Jahr nicht jedes Fest, jede Feier, jede gesellige Zusammenkunft von mehr als zwei Haushalten mit einem Toast auf Uğur Şahin und Özlem Türeci beginnen? Bei der heutigen Preisverleihung zum Beispiel würden ohne die beiden BioNTech-Gründer hier vermutlich nicht 120, 130 Leute in einem geschlossenen Raum sitzen. Ohne den BioNTech Impfstoff würde ich meine Festrede zur Verleihung des 50. Deutschen Sozialpreises - wie so viele Reden in Zeiten der Pandemie - entweder vor einem Computerbildschirm oder bestenfalls vor nahezu leeren Reihen halten. Grund genug, heute neben dem 50. Jubiläum des Deutschen Sozialpreises auch ein 60. Jubiläum zu würdigen: In zehn Tagen, am 30. Oktober, jährt sich die Unterzeichnung des Anwerbeabkommens mit der Türkei zum 60. Mal: Bis zum Anwerbestopp 1973 reisten damit rund 850.000 Türkinnen und Türken als so genannte Gastarbeiter nach Deutschland ein. Uğur Şahins Vater war einer von ihnen, und auch Özlem Türecis Eltern kamen in den 1960er Jahren nach Deutschland.

Es ist ein schöner Zufall, dass der Deutsche Sozialpreis und das deutsch-türkische Anwerbeabkommen 2021 beinahe auf den Tag genau ein ganz besonderes Jubiläum feiern. Denn beide Jubiläen haben mehr miteinander zu tun, als es auf den ersten Blick scheint: Mit dem Deutschen Sozialpreis zeichnet die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGfW) herausragende journalistische Arbeiten aus, die über soziale Missstände und gesellschaftliche Defizite in Deutschland und über die Lebenssituation der darunter leidenden Menschen aufklären. Wie wichtig diese Aufklärungsarbeit ist, zeigen exemplarisch die Folgen des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens:

Es holte Frauen und Männer in ein Land,
in dem sie nur als "Gastarbeiter", nicht aber als Mitbürger,
als Arbeitskräfte, nicht aber als Menschen willkommen waren.
Es öffnete ihnen Fabriktore, aber keine Türen zu gesellschaftlicher Teilhabe.
Es rollte den roten Teppich für ihren Fleiß und ihren Leistungswillen aus,
doch es baute die Mauern aus Vorurteilen und Ressentiments nicht ab.

So müssen wir heute, 60 Jahre nach Unterzeichnung des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens, feststellen, dass Menschen, die für ihren Beitrag zum deutschen Wirtschaftswunder und zur kulturellen Vielfalt unserer Gesellschaft Dank und Wertschätzung verdienen, immer noch mit Diskriminierung und Benachteiligung zu kämpfen haben; und das gilt auch für ihre hier geborenen Kinder und Enkelkinder.
"Wir leben in einem Land, in dem sehr viele Menschen mit Namen wie Özlem und Uğur verortet werden als Putzfrau, Gemüsehändler oder Dönerbudenbesitzer. Das ist die Denkschublade, die für sie vorgesehen ist", schrieb der Publizist Haznain Kazim Ende vergangenen Jahres in einem Kommentar über die BioNTech-Gründer, und ich zitiere weiter: "Die Freude darüber, dass ausgerechnet Forscher wie Özlem Türeci und Uğur Şahin etwas geschafft haben, worauf die ganze Welt seit Monaten wartet, ist auch deshalb so groß, weil viele solche Leistungen Menschen mit ihrem Namen, ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe nicht zutrauen."
Das ist ein Armutszeugnis - erst recht für ein Einwanderungsland wie Deutschland, in dem mittlerweile mehr als ein Viertel der Bevölkerung das hat, was man bis heute wenig wertschätzend einen "Migrationshintergrund" nennt.

Die Forderung nach mehr Engagement für Chancengleichheit und gleichberechtigte Teilhabe und nach präventiven Maßnahmen gegen Diskriminierung steht deshalb zu Recht ganz oben im Forderungspapier der BAGfW an die demokratischen Parteien zur Bundestagswahl, lieber Herr Lilie - nicht zuletzt mit Blick auch auf die Menschen, die 2015 und 2016 in Deutschland Zuflucht vor Krieg und Gewalt gesucht haben.
Ich habe es damals ausdrücklich unterstützt und finde es bis heute richtig, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel die europäischen Menschenrechtsstandards angesichts einer drohenden humanitären Katastrophe im September 2015 zum Leitbild ihrer Flüchtlingspolitik gemacht hat - bei allen Risiken und Unwägbarkeiten, mit denen diese Entscheidung verbunden war, und bei allen Anstrengungen, die uns das als Gesellschaft abverlangt. Deshalb bin ich den Spitzenverbänden der Deutschen Wohlfahrtspflege sehr dankbar, dass sie sich für eine vielfältige, diskriminierungsfreie Gesellschaft engagieren und mit dem Deutschen Sozialpreis für kritischen, sozial engagierten Journalismus in diesem Sinne auch selbst eine ganze Menge bewegen. Denn die klassischen Medien haben großen Einfluss darauf, ob kulturelle Vielfalt als Bedrohung oder als Bereicherung wahrgenommen wird, und ob Deutsche mit Zuwanderungsgeschichte sich in Deutschland heimisch fühlen - oder fremd.

"Heimat ist da, wo ich verstehe und wo ich verstanden werde": Mit dieser schönen Formulierung des Philosophen Karl Jaspers ist in einem Satz zusammengefasst, was guter Journalismus in Presse, Hörfunk und Fernsehen zu gelingender Integration und zum Zusammenhalt einer vielfältigen Gesellschaft beitragen kann: Verstehen, Verständnis, Verständigung - und damit auch ein Stück Heimat für alle, die hier zuhause sind.

Stichwort "Verstehen": Wissen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen übereinander ist zu einem großen Teil Wissen aus den Medien. Sie vermitteln nicht nur Informationen und Orientierung, sondern können auch die Abschottung einzelner Gruppen in Parallelgesellschaften verhindern helfen. Deshalb ist es so wichtig, dass gesellschaftliche Minderheiten sich angemessen repräsentiert und abgebildet sehen - und das heißt auch: nicht in Klischees, sondern als Menschen mit individuellen Interessen und Bedürfnissen. Hier gibt es, das zeigen Studien, noch einiges zu verbessern.

Stichwort "Verständnis" beziehungsweise "Verstanden werden": Mit journalistischen Kardinaltugenden wie Neugier, Sorgfalt, Unvoreingenommenheit und Ausgewogenheit werden in den klassischen Medien Grautöne sichtbar, wo Schwarz-Weiß-Denken die Wahrnehmung beherrscht. Jeder Beitrag, der ein differenziertes Bild zeichnet, jeder Beitrag, der - statt Klischees zu reproduzieren - dem einzelnen Menschen wie auch den gesellschaftlichen Zusammenhängen gerecht wird, hilft dabei, Ausgrenzung und Diskriminierung zu überwinden. Verschiedene Analysen deutscher Nachrichtenmedien zeigen allerdings, dass Menschen mit Zuwanderungsgeschichte meist Objekte der Berichterstattung sind, ihre eigene Perspektive aber oft unterbelichtet bleibt. Das heißt, dass ihre eigene Perspektive in Debatten nicht vorkommt geschweige denn verstanden wird. Hier schöpfen die klassischen Medien ihr Potential als Brückenbauer offensichtlich noch nicht aus.

Stichwort "Verständigung": Guter Journalismus kann Schweigen brechen, vermeintliche Gewissheiten in Frage stellen, unterschiedlichen Standpunkten Gehör verschaffen, notwendige Auseinandersetzungen provozieren, kurz und gut: Debatten anstoßen und damit auch politische und gesellschaftliche Veränderungen in Gang setzen.

Dass Deutschland sich mittlerweile als Einwanderungsland begreift, als weltoffene Gesellschaft, die mehrheitlich stolz ist auf ihre - auch durch Zuwanderer geprägte - Vielfalt, ist nicht zuletzt den intensiven öffentlichen, auch medialen Auseinandersetzungen zu verdanken. Allerdings steht die Berichterstattung über Menschen mit Zuwanderungs-geschichte überproportional häufig in einem negativen Kontext, etwa im Zusammenhang mit Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder mit Belastungen für das soziale Netz. Beispiel Corona: In der dritten Welle wurden Menschen mit Zuwanderungsgeschichte vielfach als Pandemietreiber dargestellt. Der Hinweis, dass ihr hoher Anteil an den Intensivpatienten unter anderem auch deshalb so hoch war, weil sie überproportional nicht im Home Office, sondern in systemrelevanten Berufen vertreten sind, dieser Hinweis hätte geholfen, den Sachverhalt einzuordnen. Die Mühe machte man sich in vielen Redaktionen allerdings selten.

Die negativ verzerrte Berichterstattung über und die fehlende Perspektive von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte sind nur zwei Beispiele, die zeigen, wie wichtig es ist, couragierten und differenzierten Journalismus zu fördern, so wie es sich die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege mit dem Deutschen Sozialpreis auf die Fahnen geschrieben haben.
Sie, verehrte Preisträgerinnen, verehrter Preisträger, zeigen mit Ihren - im doppelten Wortsinn - ausgezeichneten Texten und Beiträgen, dass Sie sich der enormen Verantwortung der Medien für Solidarität und Zusammenhalt in einer vielfältigen Gesellschaft bewusst sind. Sie nutzen Ihre Reichweite, um auch denen eine Stimme zu geben, deren Interessen und Bedürfnisse ansonsten kaum zur Sprache kommen. Das ist keineswegs selbstverständlich. Auflage und Einschaltquote steigern ja bekanntlich eher diejenigen Beiträge, die Ängste schüren und Ressentimentsbedienen. Und ziemlich desillusionierend ist immer wieder auch der Blick auf die Klickzahlen. Was, glauben Sie, war in der Woche nach der Bundestagswahl der am meisten aufgerufene und empfohlene Beitrag im Online-Angebot der Süddeutschen Zeitung? Sie liegen richtig, wenn Sie vermuten, dass es nicht eine kenntnisreiche Analyse des Wahlergebnisses war. Es war eine Meldung aus dem Tierpark mit der Überschrift: "Alle Erdmännchen in Hellabrunn sterben bei Höhleneinsturz"

Skandalisierung und Banalisierung - damit punktet man als Journalist zweifellos leichter als mit journalistischem Ethos. Letzteres wird von Lesern, Zuhörerinnen und Zuschauern leider oft nicht in einer Weise honoriert, wie es seiner Bedeutung für die Demokratie angemessen wäre. Umso mehr Wertschätzung verdienen Journalistinnen und Journalisten, die dafür sorgen, dass über soziale Missstände diskutiert und gestritten wird und die damit Kräfte zur Veränderung mobilisieren - die Selbstheilungskräfte der Demokratie gewissermaßen.

So sind mittlerweile auch die Defizite, was Perspektivenvielfalt und die Repräsentanz von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte betrifft, Thema in deutschen Medien und Redaktionen - mit erfreulichen Konsequenzen:
Ich nenne beispielhaft das Bündnis "Medien für Vielfalt", das vor einem halben Jahr von führenden Medienhäusern gegründet wurde, und die Initiative Neue deutsche Medienmacher*innen, die sich für mehr Vielfalt im deutschen Journalismus einsetzt.

Manche (leider noch zu wenige) Medienhäuser haben konkrete Maßnahmen ergriffen, um mit mehr Diversität in der eigenen Belegschaft auch die Perspektivenvielfalt in der Berichterstattung zu fördern, nicht zuletzt der aus dem BKM-Etat finanzierte Auslandssender Deutsche Welle. Und zum Glück müssen Moderatorinnen und Moderatoren heute nicht mehr Claus, Anne oder Petra heißen, um dem deutschen Fernsehpublikum Nachrichten und Debatten zu präsentieren. Das ist ein Anfang - mehr aber auch nicht.

Solange die Vielfalt unserer Einwanderungsgesellschaft sich nicht in der Vielfalt der Redaktionen und auch in der Besetzung der Gremien widerspiegelt, solange bleiben Sichtweisen und Erfahrungen, Leistungen und Lebenswelten von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte systematisch unterbelichtet, ungesehen und unverstanden. Das Ergebnis ist eine Art gesamtgesellschaftliche Farbenblindheit, die von den Betroffenen mit Recht als diskriminierend und ausgrenzend empfunden wird. Diese Farbenblindheit gefährdet Verstehen und Verständigung und damit die Grundlagen für Demokratie und Zusammenhalt in Vielfalt.

Deshalb habe ich mich in den vergangenen Jahren dafür stark gemacht, dass die Vielfalt unserer Einwanderungsgesellschaft in Kultur und Medien stärker zur Geltung kommt - zum Beispiel als Schirmherrin der Initiative Kulturelle Integration (IKI), in der sich ja dankenswerterweise auch die BAGfW engagiert. Im Rahmen des Nationalen Aktionsplans Integration hat die BKM sich außerdem verpflichtet, in den bundesgeförderten Kultureinrichtungen Diversität in den Gremien wie auch bei Personal, Publikum, Programmen und Partnern zu fördern. Dieses Ziel ist mittlerweile in den Zuwendungsbescheiden verankert, und wir stellen dafür aus dem Förderprogramm "Kulturelle Vermittlung und Integration" auch Fördermittel bereit. Darüber hinaus fördern wir auch Leuchtturmprojekte medialer Integration. Im Rahmen der gerade gestarteten strukturellen BKM-Journalismusförderung beispielsweise können auch Projekte für mehr Diversität in den Medien Fördermittel bekommen. Auch die Nachrichtenkompetenzförderung der BKM - die voraussichtlich noch dieses Jahr starten wird - gilt ausdrücklich auch für Projekte, die der kulturellen Integration durch Nachrichtenvermittlung dienen.

Sind wir also 60 Jahre nach Unterzeichnung des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens zur Verleihung des 50. Deutschen Sozialpreises endlich auf einem guten Weg, was Integration und Teilhabe betrifft? Der Aufstieg der Rechtspopulisten in den vergangenen Jahren, die mit Hass und Hetze gegen Minderheiten auf Stimmenfang gehen und Ängste vor der vermeintlichen Islamisierung des Abendlands schüren, lässt auf den ersten Blick das Gegenteil vermuten. Doch Konflikte zwischen Befürwortern und Gegnern der Einwanderungsgesellschaft dürfen uns zuversichtlich stimmen. So argumentiert der deutsche Soziologe Aladin El-Mafaalani, Sohn syrischer Einwanderer, in seinem Buch "Das Integrationsparadox". Konflikte seien nicht Symptom des Scheiterns, schreibt er, sondern Zeichen des Erfolgs im Zusammenwachsen einer Gesellschaft. Denn Fortschritte in der Integration führten zwangsläufig dazu, dass mehr und mehr Menschen mit Zuwanderungsgeschichte selbstbewusst ihre Stimme erheben und öffentlich ihre Bedürfnisse, Interessen und Erwartungen artikulieren - und eben das erzeugt Ängste und Abwehrreaktionen so mancher Alteingesessener und gibt Rechtspopulisten Auftrieb. Diese Konflikte auszutragen, darum geht es, denn Konfrontation und Kritik sind Treiber des gesellschaftlichen Fortschritts. "Streitkultur ist die beste Leitkultur", so formuliert es El-Mafaalani.

Ja, Streitkultur ist die beste Leitkultur für eine Einwanderungsgesellschaft, für Zusammenhalt in Vielfalt. Dafür spielen die Medien wie auch Kunst und Kultur eine Schlüsselrolle: Denn Kunst, Kultur und Medien lassen gedeihen, was es für eine konstruktive und produktive Streitkultur braucht: Verstehen, Verständnis und Verständigung über Gräben und Grenzen hinweg. Und das heißt natürlich auch: Verständigung und Diskussion über Bereiche der Integration, die bisher nicht gut funktionieren.

Der Deutsche Sozialpreis fördert mit der Würdigung eines kritischen und sozial engagierten Journalismus eine demokratische Streitkultur, die alle gesellschaftlichen Gruppen einbezieht. Allen, die an seiner Erfolgsgeschichte Anteil haben, gratuliere ich herzlich zum 50. Jubiläum und den Preisträgerinnen und dem Preisträger zu ihrer Auszeichnung.
Bleiben Sie weiter unbequem, auf dass in unserer Gesellschaft kenntnisreicher, differenzierter, empathischer und respektvoller gestritten wird.

Vielen Dank für Ihren Beitrag zu einer demokratischen Streitkultur und zur Stärkung der Leitkultur für eine offene Gesellschaft!

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German Federal Government published this content on 20 October 2021 and is solely responsible for the information contained therein. Distributed by Public, unedited and unaltered, on 22 October 2021 15:33:19 UTC.