New York/Dubai (Reuters) - UN-Generalsekretär Antonio Guterres hat nach dem ersten direkten Angriff des Irans auf Israel alle Seiten zu äußerster Zurückhaltung aufgerufen. Er verurteilte den Beschuss mit Drohnen und Raketen und warnte vor einer weiteren Eskalation. "Der Nahe Osten steht am Abgrund", sagte Guterres am Sonntag bei der Sitzung des Sicherheitsrates in New York. "Die Menschen in der Region sind mit der realen Gefahr eines verheerenden umfassenden Konflikts konfrontiert. Jetzt ist es an der Zeit, die Lage zu entschärfen und zu deeskalieren." Der Iran hatte Vergeltung für einen Israel zugeschriebenen Angriff auf sein Botschaftsgelände in der syrischen Hauptstadt Damaskus am 1. April angedroht. In der Nacht zu Sonntag feuerte die Islamische Republik mehr als 300 Drohnen und Raketen in Richtung Israel ab, die nach israelischen Angaben zu 99 Prozent abgefangen wurden. Regierungsvertreter aus der Türkei, dem Irak und Jordanien erklärten, der Iran habe seinen Angriff bereits Tage vorher angekündigt. Dem widersprachen die USA.

UN-Generalsekretär Guterres erinnerte die Mitgliedsstaaten daran, dass die Charta der Vereinten Nationen (UN) die Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines Staates verbiete.

Der stellvertretende US-Botschafter bei den UN, Robert Wood, forderte den Sicherheitsrat auf, den Angriff unmissverständlich zu verurteilen. Das Gremium habe die Pflicht, das Vorgehen des Irans nicht unbeantwortet zu lassen. "In den kommenden Tagen und in Absprache mit anderen Mitgliedsstaaten werden die Vereinigten Staaten zusätzliche Maßnahmen prüfen, um den Iran hier bei den Vereinten Nationen zur Verantwortung zu ziehen", sagte Wood.

Der iranische UN-Botschafter Amir Saeid Irawani erklärte, das Vorgehen seines Landes sei notwendig und verhältnismäßig. Die Regierung in Teheran strebe weder eine Eskalation noch einen Krieg in der Region an. Der Iran habe auch nicht die Absicht, einen Konflikt mit den USA einzugehen. Sein Land bekräftige aber sein Recht auf Selbstverteidigung. "Wenn die USA militärische Einsätze gegen den Iran, seine Bürger oder seine Sicherheit und Interessen einleiten, wird der Iran von seinem unveräußerlichen Recht Gebrauch machen, angemessen zu reagieren", sagte Irawani.

ISRAEL WIRFT IRAN VERSTOSS GEGEN VÖLKERRECHT VOR

Israels UN-Botschafter Gilad Erdan, der die Sitzung des Sicherheitsrates beantragt hatte, warf dem Iran Verstöße gegen das Völkerrecht vor. Er forderte den Sicherheitsrat auf, den Iran zu verurteilen, die Sanktionen wieder einzuführen und die iranischen Revolutionsgarden als Terrororganisation einzustufen. "Die Schlummertaste ist keine Option mehr. Die einzige Möglichkeit ist, den Iran zu verurteilen und alle notwendigen Mittel einzusetzen, um ihn für seine schrecklichen Verbrechen einen hohen Preis zahlen zu lassen."

Der Iran hatte seine Drohung mit Vergeltung zwei Wochen nach dem Angriff auf sein Botschaftsgelände in Damaskus wahr gemacht, bei dem sieben Offiziere der Revolutionsgarden getötet wurden. Der Iran macht Israel dafür verantwortlich. Israel hat weder bestätigt noch dementiert, den Angriff ausgeführt zu haben.

USA WEISEN DARSTELLUNG IRANS ÜBER VORWARNUNG ZURÜCK

Irans Außenminister Hossein Amirabdollahian sagte am Sonntag, sein Land habe den Nachbarstaaten und Israels engstem Verbündeten USA eine Frist von 72 Stunden vor Beginn des Angriffes genannt. Das türkische Außenministerium teilte mit, es habe vor dem Angriff sowohl mit der Regierung in Washington als auch mit der in Teheran gesprochen und als Vermittler Botschaften übermittelt, um sicherzustellen, dass die Reaktionen angemessen seien. "Der Iran erklärte, die Reaktion sei eine Antwort auf den Angriff Israels auf seine Botschaft in Damaskus und würde nicht darüber hinausgehen", sagte ein türkischer Diplomat. "Die Entwicklungen kamen nicht überraschend." Auch irakische und jordanische Regierungsvertreter erklärten, der Iran habe in der vergangenen Woche frühzeitig vor dem Angriff gewarnt und auch einige Einzelheiten mitgeteilt.

Der Darstellung des iranischen Außenministers widersprach ein Vertreter der US-Regierung. Die USA hätten über Schweizer Mittelsmänner zwar Kontakt zum Iran gehabt, seien aber nicht 72 Stunden im Voraus benachrichtigt worden. "Das ist absolut nicht wahr", sagte der Regierungsvertreter. Der Iran habe die USA erst nach Beginn des Angriffs über die Schweiz benachrichtigt. "Wir haben eine Nachricht von den Iranern erhalten, als das im Gange war - über die Schweiz. Darin hieß es im Grunde, dass sie danach damit fertig seien, aber dass der Angriff noch andauere. Das war also ihre Botschaft an uns."

(Bericht von: Daphne Psaledakis, Patricia Zengerle, Jeff Mason, Ahmed Rasheed und Samia Nakhoul; geschrieben von Sabine Ehrhardt. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte)