BERLIN (dpa-AFX) - Dem öffentlichen Nahverkehr in Deutschland drohen nach Einschätzung mehrerer Bundesländer und der Gewerkschaft Verdi Privatisierungen auf Kosten von Mitarbeitern und Qualität. Verdi-Chef Frank Bsirske sagte der Deutschen Presse-Agentur, von der drohenden Privatisierungswelle könnten möglicherweise mehr als 100 000 Beschäftigte betroffen sein. "Sie werden bei ihren Lohn- und Arbeitsbedingungen bedroht." Vor allem kommunale Busunternehmen drohe die Privatisierung.

Hintergrund ist eine Regelung im Personenbeförderungsgesetz, die bei einer Novelle 2013 in Kraft trat. "Die damalige schwarz-gelbe Koalition änderte auf den letzten Drücker dieses Gesetz", sagte Bsirske. Ein Unternehmen kann sich seither den Zuschlag für die Verkehrsdienstleistung sichern. Dazu muss es sich verpflichten, das Netz ohne Subventionen zu betreiben.

Die Kommunen schießen heute beim öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) kräftig zu. Nach den jüngsten Zahlen bezahlten sie 2015 dafür 3,7 Milliarden Euro, davon 1,2 Milliarden als Erstattung für entgangene Einnahmen durch vergünstigte Tickets etwa für Schüler, Schwerbehinderte und Auszubildende. Die ÖPNV-Unternehmen kamen vom Ticketverkauf ohne den Erstattungsbetrag auf einen Nettoertrag von 10,5 Milliarden Euro.

Bsirske kritisierte, Privatunternehmen könnten nur mit deutlich geringeren Löhnen auf Zuschüsse verzichten. "Es gab schon Beispiele dafür, wie negativ sich das vor Ort auswirkt", sagte Bsirske.

In Pforzheim hatte eine Deutsche-Bahn-Tochter die Übernahme des Stadtbusnetzes gegen den Willen der Stadt durchgesetzt. "Lohnunterschiede von 300, 400 Euro sind die Folge", sagte Bsirske. Rund 200 Beschäftigte des kommunalen Traditionsunternehmens hatten ihren Job verloren. Vor dem Fall Pforzheim hatte der Privatisierungspassus im Gesetz kaum Beachtung gefunden.

Das Motiv für die Liberalisierung war es, dass mehr Wettbewerb die Kosten senken könnte. Der Verdi-Chef hingegen forderte umgehend eine Novelle des Personenbeförderungsgesetzes. "Meist sind es private Busunternehmen, die in Ausschreibungsverfahren erfolgreich werden dürften", sagte er. "Die Kommunen müssen soziale und ökologische Bedingungen vorgeben können."

Das sieht auch eine Bundesratsinitiative mehrerer SPD-regierter Länder vor. Angesichts drohender Zwangsprivatisierungen, so die Länder, müssten die Kommunen Anforderungen wirksam definieren können und Lohndumping und die Absenkung von Qualitätsstandards verhindern.

Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) forderte ebenfalls Änderungen. "Für den VDV gilt, dass Wettbewerb nicht zulasten und auf Kosten von Mitarbeitern erfolgen darf", heißt es in einem der dpa vorliegenden Brief von VDV-Präsident Jürgen Fenske an mit dem Bereich befasste Bundestagsabgeordnete. So müssten soziale Standards in Vorabbekanntmachungen für eine geplante Direktvergabe der kommunalen ÖPNV-Leistung aufgenommen werden. Insgesamt stehe der Verband zur kommunal- wie auch privatwirtschaftlichen ÖPNV-Leistungserbringung.

Bsirske sagte, in einem Großteil der Konzessionen gebe es in den nächsten Jahren bis 2022 neue Ausschreibungen. "Das betrifft 130 000 Beschäftigte in kommunalen Nahverkehrsunternehmen."/bw/DP/stk