Produktentwicklung neu gedacht Offenheit bringt Ideen: Bei der Open Innovation finden Unternehmen in der Internet-Community Hilfe bei der Produktentwicklung. Vor allem Mittelständler können profitieren -
wenn sie den Prozess richtig steuern

Lässt sich ein perfektes Produkt verbessern? Bert Miecznik, Innovationsmanager bei der Wittenstein AG, hat es ausprobiert. Der baden-württembergische Maschinenbauer stellte ein Getriebe auf der Online-Plattform NineSigma ein - verbunden mit dem Aufruf, technische Ideen einzureichen, die die Leistungsfähigkeit erhöhen. "Aus unserer Sicht war das Getriebe so weit ausgereift, dass eine weitere Optimierung unmöglich schien", sagt Miecznik. "Wir beschlossen, eine neue Herangehensweise zu wagen." Hohe Erwartungen gab es nicht: "Es war eine Holy-Grail-Ausschreibung", beschreibt Miecznik das Projekt - ein Erfolg aus Sicht des Wittenstein-Managers so wahrscheinlich wie die Entdeckung des Heiligen Grals. Doch die Nine-Sigma-Tüftler gingen mit wenig Ehrfurcht an die Arbeit - mehrere zehntausend Personen sind beim US-amerikanischen Innovationsnetzwerk registriert. "Obwohl die Aufgabenstellung extrem speziell war, bekamen wir fast dreißig Einreichungen", sagt Miecznik. "Und die hatten eine verblüffend hohe Qualität." Etwa die Hälfte stammte von Forschungsinstituten. Ob die Vorschläge dem Getriebe tatsächlich zu mehr Leistung verhelfen, prüft Wittenstein derzeit noch. Der Nutzen der Aktion aber steht schon jetzt fest. "Wir haben zahlreiche neue Kontakte bekommen, die für uns sehr wertvoll sind", sagt Miecznik. "Um das über klassische Wege wie Messebesuche zu erreichen, hätten wir sehr viel mehr Geld ausgeben müssen." Die Online-Ausschreibung habe einen niedrigen fünfstelligen Betrag gekostet. Und nicht nur Wittenstein profitiert. Das Unternehmen hatte den Feldversuch gemeinsam mit dem Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) gestartet, um den Nutzen von Innovationsplattformen im Internet für die Branche zu ermitteln. Für Miecznik steht außer Frage: "Es funktioniert."

Unternehmen gehen bei der Produktentwicklung neue Wege. Open Innovation heißt ein Ansatz, der darauf zielt, Expertise von außen stärker als üblich zu nutzen und auch selbst mehr Transparenz zu wagen. Doch während internationale Konzerne wie Philips, BASF oder Procter?&?Gamble längst auf eine stärkere Öffnung ihrer Innovationsprozesse auch mithilfe neuer Medien setzen, wagen sich kleinere Unternehmen nur langsam vor, sagt Frank Piller, Professor für Technologie- und Innovationsmanagement an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) in Aachen. Dabei sei der Nutzen groß: "Open Innovation ist für den Mittelstand besonders interessant, um sich im Markt zu behaupten." Abgeschottet arbeiten die Entwickler in Industriebetrieben zwar längst nicht mehr. Kooperationen mit Hochschulen sowie Forschungsverbünde mit anderen Firmen unterstützen seit Jahrzehnten bei der Entwicklung neuer Produkte. Doch angesichts des wachsenden Wettbewerbsdrucks reicht das nicht mehr aus. "Viele Unternehmen müssen sich heute zum Lösungsanbieter entwickeln, obwohl sie aus einem kleineren technischen Bereich kommen", sagt Piller. "Sie brauchen also viel breiteres Wissen, als sie klassischerweise haben."

Den Weg dahin bahnen Internet und soziale Medien. Sie erlauben es, weltweit Forscher, Tüftler und Kunden in die eigene Produktentwicklung einzubinden - und das in großer Zahl. Neben NineSigma gibt es inzwischen eine ganze Reihe von Online-Innovationsplattformen: Innocentive in den USA, Fellowforce in den Niederlanden. In Deutschland ging Anfang September das Innovationskraftwerk ins Netz - unterstützt von internationalen Konzernen wie Henkel, Deutsche Post und Bayer Material Sciences. "Was mache ich aus einem eckigen Glasrohr?", fragte dort der Spezialglas-Hersteller Schott-Rohrglas und erhielt bereits 500 Vorschläge aus 68 Ländern. "Wir haben damit begonnen, erste Ideen gemeinsam mit Partnerunternehmen zu realisieren", sagt Nikolaos Katsikis, Director Business Development bei Schott-Rohrglas. Ein eigenes Innovationsportal hat Festo, ein weltweit führender Anbieter von Automatisierungslösungen, erprobt: die Engineers' Lounge. "Wir haben Ingenieure eingeladen, technische Fragestellungen über eine IT-Plattform zu diskutieren", sagt Volker Nestle, Leiter Mikrosystemtechnik des Esslinger Unternehmens. "Es ist uns allerdings nicht gelungen, die kritische Masse an Nutzern zu erreichen, um die Plattform zum Selbstläufer zu machen", sagt Nestle - trotz verschiedener Anreize. Nestles Erkenntnis: "Wenn Unternehmen wie Apple, BMW oder Bosch Endverbraucher ansprechen, scheinen proprietäre Plattformen gut zu funktionieren. Im Investitionsgütermarkt dagegen wird es schwieriger." Das Internet als Werkzeug der Forscher ist jedoch unverzichtbar. "Wissen ist in nahezu beliebiger Fülle und Geschwindigkeit verfügbar", sagt Nestle. "Es kommt immer stärker darauf an, relevante Informationen zu finden." Das Unternehmen hat Ende 2010 den renommierten Deutschen Zukunftspreis erhalten - für ein Assistenzsystem, das nach dem Prinzip des Elefantenrüssels eine gefahrlose Zusammenarbeit von Mensch und Maschine ermöglicht.

Und nicht nur bei der Natur schaut Festo ganz genau hin. Das akribische Sammeln von Ideen aller Art ist im Innovationsprozess umfassend verankert - "Future Radar" heißt das IT-gestützte Projekt. Einzelne Beschäftigte, Technologiepaten genannt, haben die Aufgabe, innerhalb eines Fachgebiets Trends aufzuspüren. "Wir können so technische Entwicklungen viel schneller erkennen und nutzen als früher", sagt Nestle. Mit ihren Online-Aktivitäten sind die Festo-Forscher vielen Unternehmen um gleich mehrere Schritte voraus. "Oft mangelt es im Mittelstand an digitaler Kompetenz und dem sicheren Umgang mit sozialen Medien", sagt Sabine Brunswicker, Expertin für Innovationsmanagement am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation. Viele Unternehmer und Manager seien es nicht gewohnt, sich mit Leuten im Internet auszutauschen - umso problematischer die Vorstellung für sie, öffentlich ein Hilfegesuch für ein Problem abzugeben. Es droht ein Kulturschock: "Vielen Mittelständlern ist es wichtig, mit gleichrangigen Leuten an einem Tisch sitzen", sagt Brunswicker. Den Leuten im Netz dagegen sei dies egal, Hierarchien existieren dort nicht. Auch intern gibt es Hürden. "Es gibt immer jemanden, der sich auf den Schlips getreten fühlt, weil er sich nicht einbezogen glaubt oder den Ansatz als Ganzes infrage stellt", sagt Wittenstein-Manager Miecznik. "Not invented here" Haltung heißt es, wenn Forscher im Betrieb gegen Anregungen von außen mauern. Doch Fraunhofer-Forscherin Brunswicker liefert gute Argumente für die Anhänger von Open Innovation. Ihre wissenschaftlichen Arbeiten zeigen, dass Unternehmen, die einen offenen Forschungsansatz pflegen, mit ihren Projekten deutlich häufiger Erfolg haben. Das befeuert auch das Wachstum: Junge Produkte haben bei den offenen Unternehmen einen höheren Anteil am Umsatz - die Innovationen kommen also auf dem Markt gut an. Wer dagegen nur für sich forscht, droht langfristig den Anschluss zu verlieren.

Der Druck auf zögerliche Firmenchefs wird weiter wachsen. Immer rascher verkürzen sich die Lebenszyklen von Produkten, gleichzeitig verschmelzen einzelne Forschungsfelder wie die Mikrosystem- und Nanotechnologie miteinander. Selbst ein internationales Unternehmen wie Festo mit seinen nahezu 15?000 Beschäftigten an 250 Standorten muss reagieren: "Wir haben keine Chance mehr, alle nötigen Kompetenzen immer komplett im Unternehmen vorzuhalten", sagt Nestle. Eine Erkenntnis, die für kleinere Unternehmen noch stärker gilt. Rund 20 Mitarbeiter hat der Markisenhersteller Schmitz-Werke in der eigenen Entwicklung. Sie sollen dabei helfen, die Marktführerschaft des Unternehmens mit Sitz im münsterländischen Emsdetten zu sichern. Allein kann ihnen das nicht gelingen - das ist Geschäftsleitungsmitglied Dan Schmitz klar. Um Wissenslücken zu schließen, setzt er auf einen breitflächigen Austausch mit Universitäten und anderen Unternehmen. Soziale Netzwerke bleiben dabei außen vor. Open Innovation ohne Web 2.0? Für Schmitz ist das kein Widerspruch. "Wir  sind so offen wie möglich, weil wir wertvolle Kommunikation nicht im Keim ersticken wollen", sagt er. "Aber wenn in einem öffentlichen Online-Forum neue Ideen von uns diskutiert würden, wäre das eine Steilvorlage für Konkurrenten." Der Wettbewerbsdruck sei enorm, Neuerungen aus seinem Haus würden rasch nachgeahmt. Die Konsequenz: "Innovationen bleiben bei uns geheim, bis sie auf den Markt kommen", sagt Schmitz - zumindest für andere Hersteller. Unternehmen, die eine auch für den Markisenbau vielversprechende Technik haben, bezieht Schmitz dagegen früh in die Entwicklung ein. Mit einem Unternehmen, das Hightech-Fasern für den Schiffbau liefert, entwickelten die Emsdettener zum Beispiel eine neue Kraftübertragung für die Markisen. Die Aufmerksamkeit gegenüber Trends in anderen Branchen und die Breite der Partnerschaften haben den Schmitz-Werken in Sachen Open Innovation den Ruf eines Vorreiters innerhalb des Mittelstands eingebracht. Schmitz geht unbürokratisch vor: "Wenn im Karosseriebau ein neues Material wie Carbon zum Einsatz kommt, dann gehen wir schnell auf die Leute zu und sprechen mit ihnen", sagt Schmitz. Jedes Unternehmen müsse die passende Innovationskultur finden, sagt Thomas-Frank Dapp, Experte bei Deutsche Bank Research. Das gelte auch für Open Innovation. Mitte 2011 hat Dapp zum Thema die Studie "Die digitale Gesellschaft" veröffentlicht. Seine Erkenntnis: Der Ansatz sollte die herkömmliche Forschung und Entwicklung nicht ersetzen, sondern ergänzen. "Open Innovation ist keine Allzweckwaffe. Aber ein Unternehmen erhöht damit sein Problemlösungspotenzial." Mithilfe von Netzwerktechnologien falle es leichter, externes Wissen in das Unternehmen hereinzuholen.

Doch der Schritt in die Online-Welt will sorgsam vorbereitet sein. Zwar spart das Anzapfen von Wissensquellen außerhalb des Unternehmens zunächst Geld. "Es muss aber auch gelingen, die Vorschläge in interne Prozesse einzubringen", sagt Expertin Brunswicker. "Firmen brauchen also Mitarbeiter und Systeme, um die Ideen zu bewerten." Und das wiederum erfordert Investitionen. Wie etwa soll ein Maschinenbauer, der Vorschläge von einem chemischen Institut erhält, deren Qualität abschätzen? "Unternehmen müssen die Fähigkeit aufbauen, zu verstehen, was ihnen von außen vorgeschlagen wird", sagt Miecznik. Rechtliche Probleme dagegen sieht er nicht. "Open Innovation ist in der Begrifflichkeit des BGB nichts anderes als ein Preisausschreiben."

Übertrieben findet er die Sorge um den Verlust von Wissen. Es sei ja schon hilfreich, über grundsätzliche Aufgabenstellungen und Lösungswege reden - und nicht über die Lösungen selbst, mit denen die Firma später Geld verdienen will. Auch Eitelkeit kann den Schritt zu mehr Offenheit verhindern. "Oft fehlt schon die Souveränität, zu ertragen, dass so eine Aufgabenstellung im Netz veröffentlicht wird", sagt Miecznik. "Das ist eine Angst aus einer vergangenen Epoche, die man ernst nehmen muss." Viele hätten außerdem Sorge, dass ihr Image Kratzer bekommt, wenn sie öffentlich Rat suchen. "Man will ja immer der Beste sein", sagt Miecznik. "Aber auch der Beste muss sich weiterentwickeln."


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