Von Joe Wallace und Georgi Kantchev

LONDON (Dow Jones)--Europas wachsende Abhängigkeit von russischem Gas und Öl schränkt den Handlungsspielraum des Kontinents in der sich zuspitzenden US--russischen Krise ganz erheblich ein. Im Falle einer Eskalation wäre der Kontinent nämlich äußerst verwundbar. Spitzenbeamte aus den USA, Russland und Europa treffen sich an diesem Donnerstag in Wien bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), um die Spannungen zu erörtern.

Zu Beginn dieser Woche gelang es den USA und Russland nicht, die Differenzen über Moskaus Stationierung von mehr als 100.000 Soldaten entlang der Grenze zur Ukraine zu verringern. Die Ukraine ist eine wichtige Durchgangsstraße für den Gasverbrauch in Westeuropa, und Moskau fordert mit Blick auf die einstige Sowjetrepublik eine Änderung der europäischen Sicherheitsarchitektur. Russland bestreitet vehement, eine Invasion seines westlichen Nachbarn vorzubereiten.

Es wird erwartet, dass die US-Senatoren bald über einen vom republikanischen Senator Ted Cruz aus Texas eingebrachten Gesetzentwurf abstimmen, der Sanktionen gegen die deutsch-russische Gaspipeline Nord Stream 2 vorsieht. Diese soll noch in diesem Jahr in Betrieb genommen werden, was die zentrale Rolle der Energie in der Auseinandersetzung unterstreicht.

Westliche Vertreter beschuldigen den Kreml, in den vergangenen Monaten zusätzliche Lieferungen zurückgehalten zu haben, um die europäischen Regulierungsbehörden zu zwingen, die Pipeline zu genehmigen - ein Vorwurf, den der Kreml von sich weist. US-Parlamentarier und die Ukraine monieren, die Pipeline würde Europa noch abhängiger von Moskau machen.


   EU-Spitzenbeamter sieht vermindertes Sanktionspotenzial der EU 

Eine solche Abhängigkeit läuft laut einem hochrangigen EU-Beamten auf eines nur zu sehr hinaus. Die europäischen Regierungen seien demnach nicht bereit, Sanktionen gegen russische Energieexporte - das Rückgrat der Wirtschaft des Landes - als mögliches Abschreckungsmittel gegen eine potenzielle Invasion in der Ukraine in Betracht zu ziehen. Der EU-Beamte war an den Gesprächen darüber beteiligt war, wie auf die Krise an der Grenze zu reagieren sei.

Die Regierungen sind derzeit auch nervös, dass Moskau Vergeltung üben könnte, indem es die Gasexporte nach Europa einschränkt. Diese Sorge wurde in den vergangenen Tagen noch akuter, da die Energiepreise wieder in die Höhe geschossen sind, so der Beamte. Trotz intensiver Lobbyarbeit der USA hat sich Deutschland noch nicht dazu geäußert, ob es Nord Stream 2 dauerhaft blockieren würde, falls Russland in sein Nachbarland eindringt.


   Hohe Erdgaspreise und ihre Folgen 

Russlands Säbelrasseln an der ukrainischen Grenze und sein Versäumnis, die Gaslieferungen nach Europa zu erhöhen oder gelegentlich zu drosseln, haben bereits dazu beigetragen, die Energiepreise in die Höhe zu treiben. Dieser Entwicklung sind bereits einige Unternehmen in Großbritannien zum Opfer gefallen und sie hat die deutsche Energiewirtschaft dazu veranlasst, sich Finanzmittel in Milliardenhöhe zu sichern.

Das verdeutlicht die anhaltende Abhängigkeit Europas von einem Lieferanten, der zunehmend bereit ist, Energie als diplomatische Waffe einzusetzen. "Die Regierungen in der Region könnten sich in einem Dilemma wiederfinden, wenn Sanktionen verhängt werden und Russland selbst kurzfristig alle Gaslieferungen nach Europa unterbricht", so Richard Morningstar, der Ex-Botschafter der USA in der EU unter dem damaligen Präsidenten Bill Clinton.


   Russland Gaslieferant Nummer eins für Europa 

Seit Annexion der Krim 2014 und der Unterstützung separatistischer Kräfte in der Ukraine hat Russland seinen Anteil am europäischen Gasmarkt erhöht. Nach Angaben von S&P Global Platts lieferte Moskau im vergangenen Jahr 123,8 Milliarden Kubikmeter Gas über Pipelines nach Europa - ohne die Türkei -, mehr als Norwegen mit 108,6 Milliarden Kubikmetern.

Damit hatten die russischen Pipelines einen Marktanteil von 29 Prozent, ein Rückgang gegenüber 34 Prozent im Jahr 2018, aber ein Anstieg gegenüber den 27 Prozent 2014. Russland exportiert auch einen Teil des verflüssigten Erdgases in Tankschiffen nach Europa.

Der russische Präsident Wladimir Putin hat "der Welt - und insbesondere den Europäern - gezeigt, dass die alte Geopolitik des Öls und Gases lebendig ist", meint Meghan O'Sullivan von der Kennedy School der Harvard University. "Auf absehbare Zeit wird Europa weiterhin von russischem Gas abhängig sein - und zwar so abhängig wie eh und je."


   Suche nach Alternativen 

Europa hat lange versucht, Gas von Produzenten in Zentralasien, Norwegen, Nordafrika und den USA zu kaufen und gleichzeitig erneuerbare Energien zu entwickeln. Erneuerbare Energien haben sich jedoch oft als schwierig zu skalieren und manchmal als unzuverlässige Stromquelle erwiesen, da sie von den Witterungsbedingungen abhängen.

Derweil bleibt die Kernenergie ein kontroverses politisches Thema. Viele Kohlekraftwerke wurden bereits geschlossen, und die heimische Gasproduktion ging zurück, so dass Europa keine andere Wahl hatte, als weiterhin Gas zu importieren, auch wenn die Preise in die Höhe schossen.


   Über Nord Stream 2 wird Großteil der Gasimporte aus Russland fließen 

Ohne russisches Gas gäbe es für den Kontinent nur wenige Ausweichmöglichkeiten. Nach Angaben von Helima Croft von RBC Capital waren die Gasexportterminals an der Golf- und Ostküste der USA im vergangenen Monat zeitweise zu 99 Prozent ausgelastet. Frühlingswetter, das die Nachfrage zähmt, könnte noch Monate auf sich warten lassen.

Es wird erwartet, dass das Gas erst in einigen Monaten durch Nord Stream 2 fließt, da dies noch in Deutschland und von der EU genehmigt werden muss. Sobald die Pipeline jedoch in Betrieb ist, wird sie einen wichtigen Teil der europäischen Gasimportinfrastruktur bilden. Die Kapazität der Pipeline würde der von Nord Stream 1 entsprechen, die ebenfalls direkt nach Deutschland führt und im vergangenen Jahr 37 Prozent der russischen Gasexporte nach Europa abwickelte, so das Rohstoffanalyseunternehmen ICIS.


   Energie als Geschäftsidee oder politischer Hebel 

Russland ist seit der Sowjetzeit ein wichtiger Energielieferant für Europa, wobei es darauf achtete, Öl und Gas nicht als Waffe einzusetzen. Damals betrachtete Moskau das Hauptexportgut Energie vor allem als Geschäftsidee und als Möglichkeit, kommerzielle und pragmatische Beziehungen zu Europa aufzubauen.

Das hat sich im Laufe der Jahre geändert, als sich die Beziehungen zum Westen verschlechterten. In den kalten Wintern 2006 und 2009 drosselte Russland zweimal die Gaslieferungen nach Europa wegen Preisstreitigkeiten mit der Ukraine.

"In den 2000er Jahren beschloss Russland, Gas als geopolitische Waffe einzusetzen", so Tatjana Stanowaja, Gründerin von R.Politik, einer unabhängigen Firma für politische Analysen. "Moskau hat es nicht geschafft, die Welt davon zu überzeugen, dass es sich um ein reines Geschäftsargument handelt, und hat seinen Ruf als stabiler Lieferant beschädigt."


   IEA weist Schuld für Gasknappheit vor allem Russland zu 

Die Internationale Energieagentur (IEA) erklärte zuletzt, Russland sei zu einem großen Teil für die Gasknappheit in Europa verantwortlich. Exekutivdirektor Fatih Birol klagt, der staatliche Gasexporteur Gazprom habe seine Exporte nach Europa im vierten Quartal reduziert, als die Preise hoch waren und Norwegen, Algerien sowie Aserbaidschan mehr Gas auf den Kontinent pumpten.

Auch die Rohölpreise sind weltweit gestiegen, was die Anfälligkeit Europas erhöht, Unternehmen und Verbraucher zusätzlich belastet und zu einer Rekordinflation in der Eurozone beigetragen hat.

Mildes Wetter und ein Zustrom von Gas aus den USA haben in letzter Zeit für eine gewisse Entspannung gesorgt, aber die Großhandelspreise für Gas in Nordwesteuropa sind fast dreimal so hoch wie vor einem Jahr. Analysten zufolge könnten eisige Temperaturen und die niedrigen Gasspeicherbestände noch vor dem Frühjahr zu Preisspitzen führen, selbst wenn die russischen Lieferungen nicht unterbrochen werden.

Das macht Georg Zachmann Sorgen. Er ist Senior Fellow bei Bruegel, einer Denkfabrik in Brüssel, und sagt: "Es gibt keine gemeinsame Vorstellung von der Versorgungssicherheit, und in der gegenwärtigen Krise wird uns das zum Verhängnis."

(Mitarbeit: Benoit Faucon und Laurence Norman)

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January 13, 2022 10:15 ET (15:15 GMT)