Von Costas Paris

LONDON (Dow Jones)--Großbritannien steht vor einem Logistik-Alptraum, der zu Verzögerungen und Engpässen bei lebenswichtigen Gütern führen könnte: Am 1. Januar 2021 vollendet das Land den Austritt aus der Europäischen Union.

Mit Beginn des kommenden Jahres soll der freie Warenverkehr über den Ärmelkanal zum ersten Mal in einem halben Jahrhundert enden. Die Entscheidung hat Ängste vor schwerwiegenden Kapazitätsengpässen in britischen Häfen und Staus auf britischen Autobahnen geweckt, wo Zollbeamte inmitten eines akuten Personalmangels, der die Lieferketten durcheinander bringen könnte, Lastwagen inspizieren werden.

Rund 10.000 Lkw überqueren täglich den Ärmelkanal auf Fähren und transportieren etwa die Hälfte aller Güter zwischen Großbritannien und dem europäischen Kontinent. Dutzende von Überfahrten befördern täglich Fracht hauptsächlich zwischen Dover auf der britischen Seite und den französischen Häfen Calais und Dünkirchen.

"Das Problem ist, dass man die Fahrt stoppen muss", sagt Richard Ballantyne, Chef der British Ports Association, einer Handelsgesellschaft. "Sowohl Fahrer als auch Ladung werden Dokumente benötigen, und wenn man sich in die Schlange einreiht, muss man sofort mit Staus und Verspätungen rechnen."

Mitarbeiter der Hafenbehörde in Dover schätzen, dass für jede Verspätung von zwei Minuten, die ein Lkw vor der Überfahrt auf britischer Seite hat, ein 17 Meilen (27,4 Km) langer Stau auf der Autobahn M20 in Richtung Hafen entsteht.

Die britische Regierung hat das Äquivalent von 627 Millionen US-Dollar (524 Millionen Euro) für den Bau von Infrastruktur, einschließlich Zoll- und Lagereinrichtungen in den Häfen und weiter im Landesinneren, bereitgestellt, um möglichen Staus entgegenzuwirken.


   Britische Regierungs-Investitionen scheinen zuwenig und zu spät 

Aber die Bemühungen scheinen zu gering zu sein und zu spät zu kommen.

Die Arbeit an den neuen Infrastrukturen schreitet nur langsam voran. Und ein Personalmangel bei Zollbeamten, die für die Prüfung von Importen wie Fleisch, Geflügel und Frischeprodukten benötigt werden, dürfte dazu führen, dass Sendungen, die zuvor schnell durchkamen nun stunden- oder sogar tagelang festgehalten werden könnten.

Britische Supermarktketten, die Vertriebswege in der Annahme aufgebaut haben, dass die Produkte direkt vom Lastwagen in die Ladenregale gelangen würden, haben zuwenig Kühllager. Dies lässt Befürchtungen aufkommen, dass ein Großteil der Fracht verderben könnte.

"Wir müssen Zollerklärungen auf der Fähre ausfüllen, und dann wird uns eine App sagen, was wir als nächstes tun müssen", sagt Thijs Van Dijk, ein niederländischer Fahrer, der frisches Obst und Blumen von Dünkirchen nach Dover transportiert. "Ich beliefere Wochenmärkte und hoffe auf wenig Verkehr, damit die Ladung frisch bleibt. Nun kann es sein, dass wir für Stunden aufgehalten werden. So können wir kein Geschäft machen."

Britische Regierungsvertreter hoffen, dass die App Goods Vehicle Movement Service, die sich noch in der Entwicklung befindet, Lkw-Fahrer zu bestimmten Kontrollpunkten leiten oder ihnen ohne Kontrollen grünes Licht geben wird. Neue Zolleinrichtungen und Parkplätze werden außerhalb von Häfen wie Dover, Portsmouth und Holyhead in Wales ausgewiesen.

Verzögert wurden die Arbeiten seit dem Brexit-Referendum 2016 durch die mühsamen Verhandlungen über ein Handelsabkommen zwischen Großbritannien und Brüssel, das nach der endgültigen Trennung in Kraft treten würde.

Zudem kam Covid-19 dazwischen. Die wegen coronabedingter Lockdowns monatelangen Unterbrechungen der Arbeiten an der Infrastruktur haben die britische Regierung gezwungen, das eigene Startdatum für Importzölle und -tarife auf Juli zu verschieben, während die EU ab Anfang Januar britische Importe besteuert.


   Mehr als 30 Autobauer wären von Engpässen betroffen 

Von den Engpässen könnten mehr als 30 Autobauer betroffen sein, darunter Honda Motor, Toyota Motor und Jaguar Land Rover - Unternehmen, die nach Angaben der britischen Automobile Association jährlich rund 1,8 Millionen Autos in Großbritannien produzieren. Die Hersteller sind in hohem Maße von just-in-time gelieferten Teilen aus der EU abhängig, die direkt an die Montagebänder gehen, um Fahrzeuge zu produzieren, von denen viele für den Export auf den europäischen Kontinent bestimmt sind.

Einige Hersteller ziehen Luftfracht in Betracht, um Lkw zu ersetzen. Allerdings würde diese Lösung hohe neue Logistikkosten mit sich bringen, die zusätzlich zu den EU-Zöllen anfielen und somit den Preis der in Europa verkauften Fahrzeuge aus britischer Produktion erheblich erhöhen könnten.

"Wir befürchten, dass unser Produktionsstandort aufgrund der Zölle weniger attraktiv sein wird", sagt Ballantyne. "Wir prognostizieren noch keine großen Veränderungen im Frachtvolumen, aber die Frachtunternehmen werden ihre Optionen überprüfen."

Hinzu kommt, dass mindestens 250.000 kleinere britische Importeure und Exporteure zum ersten Mal Zollerklärungen ausfüllen müssen, so das National Audit Office, das die staatlichen Ausgaben für das Parlament überprüft.

Viele Unternehmen erwägen Strategien, um mögliche Verzögerungen zu vermeiden. Ein Plan ist es, beladene Anhänger an den Fähren auf der einen Seite des Kanals abzusetzen und sie auf der anderen Seite von lokalen LKW-Fahrern abholen zu lassen, anstatt denselben Fahrer eine Ladung den ganzen Weg transportieren zu lassen. Das könnte Zeit sparen, da die Fahrer keine Passkontrolle durchlaufen müssten.

Die British International Freight Association (BIFA), die die Spediteure vertritt, wirft der britischen Regierung vor, noch immer keinen klaren Strategieplan vorgelegt zu haben.

"Die Logistikunternehmen warten immer noch auf so viele Informationen von der Regierung und sind geschockt über den Mangel an Konsistenz der Politik, der Systemplanung und der Verfahren", sagte BIFA-Generaldirektor Robert Keen Ende September. "BIFA wird das Nötige tun, aber fangen Sie nicht an, mit dem Finger auf uns zu zeigen und uns die Schuld zuzuschieben, wenn bei uns immer noch die Arbeitswerkzeuge fehlen, die Sie uns zur Verfügung stellen müssen, damit wir unsere Arbeit erledigen können."

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December 01, 2020 06:46 ET (11:46 GMT)