LONDON/BRÜSSEL (dpa-AFX) - Mehr als drei Jahre nach dem Brexit-Referendum wählen die Briten wieder ein neues Parlament. Es ist bereits die dritte Wahl in weniger als fünf Jahren. Umfragen sahen den konservativen Premierminister Boris Johnson stets deutlich vorn. Allerdings braucht er eine klare Mehrheit, um seine Brexit-Pläne im völlig zerstrittenen Parlament durchzubekommen. Derzeit führt Johnson eine Minderheitsregierung an.

Die Wahllokale sollten Donnerstagabend um 23.00 Uhr MEZ schließen. Unmittelbar danach wurden erste Prognosen nach Wählerbefragungen erwartet.

In London berichteten Wähler von ungewöhnlich langen Schlangen vor mehreren Wahllokalen. In Bermondsey and Old Southwark sagte ein 27-Jähriger: "Für viele ist es eben die Wahl unseres Lebens." Andere waren sehr besorgt: "Ich finde, man kann die Wahl zwischen Boris Johnson und Jeremy Corbyn mit der Abstimmung damals in den USA über Donald Trump und Hillary Clinton vergleichen: Beide sind Teufel", sagte ein Brite, der in der Nähe des Londoner Parlaments arbeitet.

Die größte Oppositionspartei Labour konnte zuletzt in Umfragen deutlich zulegen. Vor allem in Mittel- und Nordengland liefern sich die Konservativen und die Labour-Partei um Corbyn ein enges Rennen. Brexit-Gegner hatten hier zum taktischen Wählen gegen konservative Kandidaten aufgerufen.

Das Mehrheitswahlrecht in Großbritannien kennt nur Direktmandate. Ins Parlament ziehen die Kandidaten mit den jeweils meisten Stimmen in einem der 650 Wahlkreise ein - egal wie knapp ihr Sieg war. Die Stimmen für unterlegene Kandidaten verfallen. Das macht es sehr schwer, aus landesweiten Umfrageergebnissen auf die mögliche Sitzverteilung im Parlament zu schließen.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass es zu einem "hung parliament" kommt, einer Sitzverteilung, die keiner der beiden großen Parteien eine Regierungsbildung mit eigener Mehrheit ermöglicht. Dann wäre sogar eine Minderheitsregierung mit Corbyn als Premier denkbar. Der 70-Jährige will den Brexit verschieben, um ein eigenes Abkommen auszuhandeln. Über den Deal sollen die Briten dann in einem zweiten Referendum abstimmen. Die Alternative wäre ein Verbleib in der EU.

Johnson und Corbyn sind bei den Wählern nicht besonders populär. Viele Briten stufen den Premierminister, der den Brexit zum 31. Januar durchziehen will, nicht als vertrauenswürdig ein. Corbyn, der vor allem auf soziale Themen wie Gesundheit und Bildung setzt, hat sich lange Zeit nicht klar zum Brexit positioniert. Außerdem wird ihm und seiner Partei eine feindliche Haltung gegen Juden vorgeworfen.

"Ich weiß, wen ich wähle. Ich will, dass dieser Brexit endlich durchgezogen wird", sagte ein Putzmann in London. "Ich habe 1975 für die (EU-)Mitgliedschaft gestimmt ... Mir hat das nichts gebracht. Wir sollten wieder über unser eigenes Schicksal bestimmen können."

"Labour ist definitiv besser für Großbritannien", meinte ein Mann, der allein vor dem Parlament gegen angebliche Korruption der Polizei protestierte. Demonstrationen vor dem Unterhaus, die es etwa bei wichtigen Brexit-Abstimmungen gibt, blieben am Donnerstag aus.

Die Konservativen sind seit 2010 an der Regierung. 2016 votierten die Briten bei einem Referendum mit knapper Mehrheit für einen EU-Austritt. Johnson war einer der prominentesten Befürworter.

In Schottland musste ein Wahllokal evakuiert werden, weil in der Nähe ein verdächtiger Gegenstand gefunden worden war. Das Objekt war nach Polizeiangaben in der Nacht zum Donnerstag in einem Wohnhochhaus in Motherwell einige Kilometer südöstlich von Glasgow gefunden worden. Ein 48-jähriger Mann wurde festgenommen. Die Vorrichtung war laut Polizei nicht funktionstüchtig, wurde von Experten aber vorsichtshalber kontrolliert zur Explosion gebracht. Die Wähler mussten ihre Kreuze in einer nahe gelegenen Schule machen.

Wahlforscher hatten zuletzt nur noch einen Vorsprung von 28 Mandaten für die Konservativen vor den anderen Parteien vorausgesagt. Dann kämen sie auf 339 von 650 Sitzen. Für die großangelegte Erhebung im Auftrag der Tageszeitung "The Times" wurden mehr als 100 000 Menschen über einen Zeitraum von sieben Tagen einschließlich Dienstag befragt.

Nach einer Umfrage zwei Wochen früher konnte Johnson noch mit einem Vorsprung von 68 Abgeordneten rechnen.

Der Chef der Europäischen Volkspartei, Donald Tusk, pocht darauf, gute Beziehungen zu Großbritannien auch nach dem Brexit aufrecht zu erhalten - unabhängig vom Ausgang der Parlamentswahl: "Die EU sollte alles tun, um die bestmöglichen Beziehungen mit dem Vereinigten Königreich zu haben. Brexit-Müdigkeit kann nicht Müdigkeit gegenüber dem Vereinigten Königreich bedeuten. Was auch immer passiert, wir müssen beste Freunde und engste Partner bleiben", sagte Tusk am Donnerstag am Rande eines Treffens der Staats- und Regierungschefs der EVP vor dem EU-Gipfel in Brüssel./si/DP/stw