Von Hans Bentzien

FRANKFURT (Dow Jones)--Die deutsche Wirtschaft steht 2023 vor eine Reihe kurzfristiger Herausforderungen, die sich kaum losgelöst von der russischen Aggression gegen die Ukraine betrachten lassen. Es ist nicht klar, wie dieser Krieg verlaufen wird. Somit ist auch nicht klar, ob und wie die Sanktionen gegen Russland eskalieren werden und welche Gegenmaßnahmen Russland ergreifen wird. Unklar ist also auch, wie und zu welchem Preis Deutschland seine Energieversorgung absichern wird, ob genug Gas für die Industrie da sein wird und wie viel Geld den Menschen für den Konsum bleibt. Angesichts dieser Unsicherheiten sind Makro-Prognosen mit Vorsicht zu genießen.

1. Perspektiven der Industrie nicht schlecht

Das verarbeitende Gewerbe hat volle Auftragsbücher, weil es aufgrund von Lieferproblemen seit langem nicht möglich ist, hereinkommende Bestellungen zügig abzuarbeiten. Zuletzt hat sich die Lage allerdings etwas entspannt: Die Lieferketten funktionieren besser, es gibt mehr Rohstoffe und Vormaterialien, im Oktober sank daher erstmals seit 2021 der Auftragsbestand. Die Auftragseingänge haben schon vor längerer Zeit den Rückwärtsgang eingelegt. Insgesamt ist die Lage der Industrie kurzfristig nicht schlecht, wie Ifo-Index und Einkaufsmanagerindizes (PMIs) zeigen. Am Horizont zeigen sich strukturelle Probleme, die aber hier nicht das Thema sein sollen.

Wie wird sich die Nachfrage nach Gütern Made in Germany entwickeln? Wichtigster Außenhandelspartner sind die USA, deren Wirtschaft derzeit brummt - aber das Brummen wird leiser. Die hohe Inflation wird den Konsum belasten, der Handelskrieg mit China kostet Umsatz. China ist für Deutschland auch direkt ein Thema. Derzeit leidet das Land unter starken Covid-Ausbrüchen, die die Wirtschaft 2023 belasten könnten, nachdem es zuvor die Anti-Covid-Maßnahmen getan haben. Großbritannien steuert auf eine schwere Rezession zu.

2. Dienstleistungen - der Einbruch lässt noch auf sich warten

Dass die deutsche Wirtschaft im dritten Quartal entgegen den Erwartungen nicht geschrumpft ist, war dem privaten Dienstleistungskonsum zu verdanken. Volkswirte waren irrtümlich davon ausgegangen, dass die Nachholeffekte nach dem Ende der Anti-Covid-Maßnahmen schon zwischen Juli und September auslaufen würden, und sie erwarten das nun für das vierte Quartal erneut. Sie argumentieren, dass die hohe Inflation und die Angst vor Betriebskostennachzahlungen den täglichen Konsum und die Lust auf größere Anschaffungen dämpfen werden. Auch hier gilt: Aktuelle Daten (PMIs, GfK) stimmen eher hoffnungsvoll für das vierte Quartal. Im ersten Quartal 2023 könnte dann aber der "Winter des Missvergnügens" beginnen.

3. Bruttoinlandsprodukt dürfte 2023 sinken

Die Prognosen für das Bruttoinlandsprodukt (BIP) schwanken grob gesagt zwischen 0 und minus 3 Prozent. Die Bundesbank, der Beobachter eine besondere Urteilsfähigkeit zutrauen, prognostiziert ein kalenderbereinigtes Minus von 0,5 Prozent. Annahmen sind unter anderem: Es wird weiterhin so viel Gas gespart wie nach dem russischen Lieferstopp, die Winter sind durchschnittlich kalt, die Verbraucher lösen weiterhin Ersparnisse auf, und der Ukraine-Krieg "lässt graduell nach". Einiges wird von der Entwicklung im vierten Quartal abhängen, das über die Höhe des "statistischen Überhangs" entscheidet, der 2022 ein "Unterhang" sein dürfte. (Das ist die Veränderungsrate, die sich ergeben würde, wenn das BIP für den Rest des Jahres 2023 auf dem Niveau des vierten Quartals 2022 bleiben würde.

3. Inflation schon bald mit einer 2 vor dem Komma?

Die Bundesbank erwartet im Jahresschnitt einen Anstieg des Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) von 7,2 Prozent. Aber manche Bankvolkswirte erwarten, dass die Inflationsrate schon Ende 2023 eine 2 vor dem Komma haben und 2024 2 Prozent erreichen wird. Wenn das vergangenen Jahr eines gelehrt hat, dann das: Es ist ungemein schwer, die Inflationsentwicklung richtig vorherzusagen.

4. EZB erhöht vorerst weiter die Zinsen

Entsprechend unsicher ist auch das weitere Vorgehen der Europäischen Zentralbank (EZB. Nimmt man EZB-Präsidentin Christine Lagarde beim Wort, dann hebt die EZB ihre Zinsen bis Mai vielleicht noch um 150 Basispunkte an. Aber weiter als bis März, wenn der EZB Inflationsdaten für Januar und Februar vorliegen (die eher hoch ausfallen werden), lässt sich beim besten Willen nicht schauen. Selbst das deutsche EZB-Ratsmitglied Joachim Nagel sagte in einem Interview, dass die EZB der jüngsten Straffung "aus heutiger Sicht" robuste Zinsschritte folgen lassen müsse. Einige Bankvolkswirte erwarten für Ende 2023 schon die erste Zinssenkung.

Kontakt zum Autor: hans.bentzien@dowjones.com

DJG/hab/smh

(END) Dow Jones Newswires

January 03, 2023 06:00 ET (11:00 GMT)