ANKARA (AFP)--Militärinterventionen in Syrien und Libyen, Streit um Gasvorkommen im Mittelmeer, Menschenrechtsverletzungen oder Flüchtlingskrise: Immer wieder seit dem Beginn von Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei im Jahr 2005 gab es in den Beziehungen zwischen Brüssel und Ankara Tiefpunkte. Plötzlich aber schlägt Präsident Tayyip Recep Erdogan versöhnliche Töne an. Dieser abrupte Kurswechsel könnte auch mit dem Wahlausgang in den USA zusammenhängen.

Jahrelang konnte sich Erdogan der Unterstützung des abgewählten US-Präsidenten Donald Trump sicher sein. Der türkische Staatschef gehörte zu einer ausgewählten Gruppe führender Vertreter aus dem Ausland, die einen direkten Telefondraht zu Trump hatten, für den populistischen US-Präsidenten war Erdogan sogar "ein guter Freund". Doch im November wurde Trump abgewählt und sein Nachfolger Joe Biden sieht die Entwicklungen der vergangenen Jahre in der Türkei deutlich kritischer.

"Bidens Sieg hat die Karten neu gemischt", sagt ein europäischer Diplomat der Nachrichtenagentur AFP. Erdogan müsse damit rechnen, mit seinen einseitigen, provokativen Manövern nicht länger ungestraft davonzukommen. Eine "Eskalation mit der EU und mit den USA" aber könne sich Ankara schlichtweg nicht leisten - auch wirtschaftlich nicht.

Als Brüssel im Dezember im Konflikt zwischen der Türkei und Griechenland um Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeer die Sanktionsschrauben weiter anzog, lenkte Erdogan auf einmal ein: Nach jahrelanger Pause nehmen Athen und Ankara am 25. Januar ihre Gespräche zur Beilegung des Streits wieder auf, gleichzeitig will Erdogan in den Beziehungen mit der EU "eine neue Seite aufschlagen".

Am Dienstag vergangener Woche traf der türkische Staatschef EU-Diplomaten in Ankara, am Montag reiste Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) nach Ankara, am Donnerstag kommt sein türkischer Kollege Mevlüt Cavusoglu nach Brüssel. Gegenseitige freundliche Schreiben sollen zudem die Beziehungen zwischen Erdogan und Macron wieder verbessern.

"Erdogan sucht überall Freunde", sagt Türkei-Expertin Ilke Toygür vom Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit. "Dieser Ruf nach einer Annäherung an die EU kann als Vorbereitung" auf die neue US-Politik unter Biden interpretiert werden, findet ihre Kollegin Sinem Adar vom Centrum für angewandte Türkeistudien in Berlin.

Aber auch die schwere Wirtschaftskrise seines Landes zwingt Erdogan zum Einlenken gegenüber Brüssel. Im vergangenen Jahr verlor die türkische Lira ein Fünftel ihres Werts gegenüber dem Dollar, zur Stützung der Währung musste die Zentralbank massiv auf ihre Reserven zugreifen. Die Corona-Krise verschärfte die Probleme nur noch weiter.

Erdogan stehe deshalb "unter wachsendem innenpolitischen Druck", sagt Adar. Da hilft es, sich daran zu erinnern, dass 67,2 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen zwischen 2002 und 2018 von den EU-Mitgliedstaaten stammten.

Um mit seiner Werbung um die Gunst Brüssels glaubwürdig zu sein, brauche es jedoch mehr als kleineres Entgegenkommen und warme Worte, warnt Adar. Brüssel erwarte von der Türkei, dass sie bei ihrer konfrontativen Außenpolitik, der Aushöhlung des Rechtsstaats und der Verfolgung politischer Gegner "einen Gang zurückschaltet". Expertin Toygür weist darauf hin, dass es bisher "keine konkreten Aktionen" gegeben habe, die als Demonstration des guten Willens gewertet werden könnten.

Ihrerseits ist die EU zwar daran interessiert, weitere Spannungen mit der Türkei zu vermeiden. Doch haben einige Länder nach Einschätzung von westlichen Diplomaten wenig Interesse, die derzeit auf Eis liegenden Beitrittsverhandlungen energisch voranzutreiben. Nach den Worten des EU-Diplomaten begegnen viele "der Charme-Offensive der Türkei mit Skepsis".

DJG/hab

(END) Dow Jones Newswires

January 18, 2021 09:55 ET (14:55 GMT)