Von Paul J. Davies

LONDON (Dow Jones)--Zu viel Geld auf der Jagd nach zu wenigen Vermögenswerten führt zu einigen seltsamen Phänomenen im Herzen der europäischen Finanzmärkte. Ein krasses Beispiel: Einige Unternehmen und die meisten Banken können jetzt Kredite zu Zinssätzen aufnehmen, die niedriger sind - und weiter unter null - als der von der Europäischen Zentralbank festgelegte Zinssatz.

Die italienische Enel SpA, einer der größten Stromerzeuger Europas, hat kurzfristige Commercial Papers ausstehen, die laut Factset jüngst eine annualisierte Rendite von minus 0,61 Prozent boten: Das sind 0,11 Prozentpunkte weniger als der Einlagensatz der EZB von minus 0,5 Prozent.

Wenn die Zinsen negativ sind, zahlen Kreditnehmer bei Fälligkeit ihrer Schulden weniger zurück, als ihnen geliehen wurde. Bei diesem Zinssatz würde Enel, wenn es sich 100 Euro für ein Jahr leihen würde, 99,39 Euro zurückzahlen.

Für den Kreditgeber, in diesem Fall die Geldmarktfonds, die Commercial Papers kaufen, ist das Gegenteil der Fall. Sie bekommen weniger Geld zurück als sie angelegt haben.


   Jahrelanger Gewöhnungsprozess 

"Es hat ein paar Jahre gedauert, bis sich die Kunden mit dem Gedanken anfreunden konnten, dass sie dafür bezahlen müssen, dass sie ihr Geld an einem sicheren Ort aufbewahren", sagt Kim Hochfeld, globaler Leiter des Bargeldgeschäfts von State Street. Der EUR Liquidity LVNAV Fund von State Street mit einem Volumen von 6,6 Milliarden Euro wirft nach Gebühren eine Rendite von minus 0,68 Prozent ab. Aber dem stehen Gesamtkosten für große Bankeinlagen von bis zu 1 Prozent gegenüber, fügte sie hinzu.

Fremdkapitalkosten unter dem Zentralbankzins sind in jeder Volkswirtschaft ungewöhnlich. Es gibt Parallelen zu anderen Verzerrungen auf den Finanzmärkten, die auftreten, seit die Zentralbanken massive monetäre Unterstützung initiiert haben, um den Volkswirtschaften durch Covid-19-Lockdowns zu helfen. Zu den Verzerrungen gehören steigende Preise für Aktien und hochriskante Vermögenswerte wie Bitcoin.


   Bund-Rendite zeitweise unter EZB-Einlagensatz 

Negative Zinssätze sind in der Eurozone seit 2014 eine Realität, aber an den Geldmärkten wurden sie während der Pandemie durch die Anleihekäufe und Kreditprogramme der EZB noch weiter nach unten getrieben. Dies hat auch die Renditen einiger langfristiger Staatsanleihen unter den Einlagensatz gedrückt: Die Rendite 10-jähriger Bundesanleihen liegt seit September vergangenen Jahres die meiste Zeit unter dem Einlagensatz, wobei sie sich in diesem Monat wieder über diesen bewegt haben.

Die Unterstützung der Zentralbanken hat auch dazu beigetragen, dass Unternehmen Rekordsummen an längerfristigen Anleihen emittiert haben. Damit haben sie genug Geld, um den Verlust normaler Einnahmen zu überstehen, wenn die Wirtschaft stillsteht. Einige sitzen auf Bergen von Bargeld.


   Rekordbestände bei Geldmarktfonds 

Der Start-Stop-Stil des derzeitigen sozialen und wirtschaftlichen Lebens hat auch die Ausgaben von Verbrauchern und Unternehmen eingeschränkt, was zu einer Anhäufung von Ersparnissen geführt hat. Europäische Geldmarktfonds, die oft als Alternative zu Bankeinlagen genutzt werden, haben nach Angaben der EZB einen Rekordstand von 1,4 Billionen Euro erreicht.

Unternehmen und Banken brauchen das Geld nicht, das diese Fonds bieten. Der gleitende Vier-Wochen-Durchschnitt der wöchentlichen Commercial-Paper-Emissionen ist laut CMDportal, einem Aggregator für Anleihe- und Geldmarktdaten, seit Anfang 2020 um fast 40 Prozent gesunken.

Die durchschnittlichen Zinssätze sind laut David Callahan, Geldmarktfondsmanager bei Lombard Odier Investment Managers, im Januar als Reaktion darauf auf etwa minus 0,55 Prozent gefallen.

"Es schwappt viel Liquidität herum und die Zinsen sind sehr niedrig", sagte Callahan. Für Investoren, die ihr Geld in Commercial Papers angelegt haben, "fühlt es sich ein bisschen wie der Tod durch tausend Schnitte an", sagte er.


   Schwache Ratings bremsen nicht 

Enel ist einer der größeren Emittenten von Commercial Papers in Europa und hat mehr als 2 Milliarden Euro in verschiedenen Laufzeiten ausstehen. Das Unternehmen hat ein kurzfristiges Kreditrating von A2 und ein normales Kreditrating von BBB+, nahe am unteren Ende des Investment Grades.

Ein Enel-Sprecher sagte, dass das Unternehmen weiterhin die Commercial-Paper-Märkte nutzen werde, wenn dies die effizienteste Finanzierungsquelle sei.

Kreditkosten am Markt, die unter dem Zinssatz der EZB liegen, sind auch in anderen Bereichen sichtbar. An den Repo-Märkten, an denen Tagesgeld gegen Staatsanleihen besichert wird, liegt der Zinssatz für die Aufnahme von Krediten gegen Bundesanleihen zum Beispiel aufs Jahr gerechnet bei minus 0,634 Prozent.

Dies ist zum Teil auf einen Mangel an Anleihen zurückzuführen, die als Sicherheiten verwendet werden können. Die Analysten der Bank of America befürchten, dass sich dies noch verschlimmern könnte, wenn die EZB weiterhin Anleihen aufkauft. Am Ende des Jahres, wenn die europäischen Banken ihre Bilanzen schrumpfen wollen, um die regulatorischen Vorgaben zu erfüllen, können die Zinssätze stark sinken. Der Overnight-Repo-Satz für deutsche Anleihen ist Ende 2020 auf minus 2,3 Prozent gefallen.


   Verkehrte Welt bei den Zinssätzen 

Ähnlich verhält es sich auf den unbesicherten Interbankenmärkten, einem Kernstück des Finanzsystems, auf dem sich Banken gegenseitig Geld leihen. Zinssätze wie der kurzfristige Euro-Tagesgeldsatz und der längerfristige Euribor sind Benchmarks für die Kreditvergabe in der gesamten Wirtschaft, einschließlich Geschäftskrediten, Hypotheken und Kreditkarten.

Seit Mitte Dezember konnten Kreditnehmer oft einen niedrigeren Zinssatz für eine Woche bekommen - im Durchschnitt minus 0,566 Prozent - als für Übernachtkredite, im Durchschnitt minus 0,562 Prozent, laut Factset. Das ist merkwürdig, weil es riskanter ist, Geld für einen längeren Zeitraum zu leihen als für einen kurzen.

Bas van Geffen, Analyst bei der Rabobank, sagt, dies sei ein Zeichen dafür, dass vor allem Banken einfach zu viel Bargeld haben und es dorthin verschieben, wo sie die Verluste durch negative Zinsen minimieren können. "Es ist ein bisschen wie das Weiterreichen einer heißen Kartoffel", sagte er.

Caitlin Ostroff hat zu diesem Artikel beigetragen.

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February 10, 2021 07:00 ET (12:00 GMT)