Von Christopher M. Matthews und Collin Eaton

NEW YORK (Dow Jones)--Die Bedrohung durch eine russische Invasion in der Ukraine erschüttert den fragilen globalen Ölmarkt und lässt die Preise näher an die 100-Dollar-Marke pro Barrel rücken. Händler rechnen damit, dass das Angebot die Auswirkungen einer erheblichen Unterbrechung der russischen Exporte fossiler Brennstoffe nur schwer auffangen könnte. Die Nachfrage nach Öl ist nämlich schneller gestiegen als die Produktion, da sich die Volkswirtschaften langsam von den schlimmsten Folgen der Pandemie erholen, so dass der Markt nur über einen kleinen Puffer verfügt, um einen Ölversorgungsschock abzufedern. Russland ist drittgrößter Erdölproduzent der Welt. Und ein Konflikt in der Ukraine sollte einen erheblichen Rückgang der russischen Lieferungen an den Markt lostreten, was für das zerbrechliche Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage gefährlich wäre.

Diese Dynamik hat die Händler in den vergangenen Tagen dazu veranlasst, eine beträchtliche geopolitische Risikoprämie einzupreisen, so die Analysten. Die Rohölpreise, die seit 2014 nicht mehr über 100 US-Dollar pro Barrel lagen, schnellten Ende der Vorwoche wegen der Sorgen um die Ukraine auf ein Achtjahreshoch. "Wir bereiten uns auf eine Zeit der Turbulenzen vor", sagt Jason Bordoff von der Columbia-Universität. "Die Bedrohung ist ausgeprägter, wenn die Energiemärkte angespannt sind." So trägt die Besorgnis über eine mögliche russische Invasion dazu bei, dass die Aktienmärkte in Anbetracht der Ängste über eine höhere Inflation und steigende Anleiherenditen in einer volatilen Phase feststecken. Russland ist auch ein bedeutender Exporteur von anderen Rohstoffen, darunter Weizen, was sich im Falle eines militärischen Konflikts auf die Preise auswirken könnte, heißt es unisono von Analysten und Beratern.


   Biden hält sich alle Optionen offen 

Im Moment halten Analysten eine größere Störung für unwahrscheinlich. Schließlich hat die US-Regierung von Präsident Joe Biden nicht signalisiert, dass zu den Vergeltungsmaßnahmen auch Sanktionen gegen die russische Energiewirtschaft gehören werden. Russland wiederum ist in hohem Maße von den Einnahmen aus den Exporten fossiler Brennstoffe abhängig. Deshalb erscheint es unwahrscheinlich, dass das Land als Vergeltungsmaßnahme den Hahn zudreht, so die Analysten. Das Weiße Haus hat jedoch erklärt, dass keine Bestrafung vom Tisch sei und ein Krieg zu unvorhersehbaren Ergebnissen führen kann. Die USA warnten Ende der Vorwoche, dass eine russische Militärinvasion jederzeit möglich sei und Zehntausende von Opfern fordern könnte. Russland, das rund 130.000 Soldaten entlang der ukrainischen Grenzen stationiert hat, bestreitet die Absicht, in sein Nachbarland einzumarschieren. Für den Rest der Welt steht viel auf dem Spiel. Ein starker Anstieg der Erdgas- und Erdölpreise könnte sich auf die Preise für Benzin sowie viele Konsumgüter auswirken und die Inflation in die Höhe treiben.

Russland spielt auf den globalen Rohstoffmärkten eine überragende Rolle. Nach Angaben der Investmentbank Cowen exportiert das Land täglich etwa 5 Millionen Fass Rohöl, was etwa 12 Prozent des Welthandels entspricht, und etwa 2,5 Millionen Barrel Erdölprodukte, was etwa 10 Prozent des globalen Handels entspricht. Etwa 60 Prozent der russischen Ölexporte gehen nach Europa und weitere 30 Prozent nach China. Die Spannungen im Zusammenhang mit der Ukraine kommen zu einem Zeitpunkt, an dem die Organisation der erdölexportierenden Länder und ihre Verbündeten, einschließlich Russlands (Opec+), vorsichtig mehr Barrel auf den Markt bringen wollen. Sie streben eigentlich danach, die wieder anziehende Nachfrage auszunutzen, haben aber ihre Ölproduktionsziele bisher nicht erreicht.


   Kaum freie Produktionskapazitäten der Opec+ 

Die Gruppe hat sich vergangenes Jahr darauf geeinigt, die Produktion jeden Monat um 400.000 Barrel pro Tag aufzustocken. Bislang hat sie ihr Ziel jedoch um mehr als 1 Million Barrel pro Tag verfehlt, so Ölanalyst Andy Lipow von Lipow Oil Associates in Houston. "Der Markt stellt nun die Fähigkeit der Opec+ in Frage, die Produktion wieder auf das Niveau von vor der Pandemie zu bringen", argumentiert Lipow. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) sind die einzigen beiden Produzenten in der Opec+, die über erhebliche freie Produktionskapazitäten zu verfügen scheinen, fügt Lipow hinzu. IHS Markit geht davon aus, dass die weltweite Ölnachfrage von Januar bis Dezember um 3,8 Millionen Barrel bis 4 Millionen Barrel pro Tag steigen wird, wobei nach dem Abklingen der Omikron-Variante des Coronavirus eine weitere Phase starken Wachstums erwartet wird.

In der Zwischenzeit bringen die amerikanischen Fracking-Unternehmen als Reaktion auf die hohen Preise zwar mehr Bohrtürme auf den Weg, aber eine wesentliche Steigerung ihrer Ölproduktion ist noch Monate entfernt. Die Schieferölunternehmen haben sich verpflichtet, das Produktionswachstum zu begrenzen und mehr Barmittel an die Aktionäre zurückzugeben, was ihre Fähigkeit, etwaige Versorgungslücken zu schließen, möglicherweise einschränkt. Das Energieberatungsunternehmen Wood Mackenzie ging vergangene Woche davon aus, dass die Ölproduktion in den USA bis Ende 2022 um 240.000 Barrel pro Tag steigen würde.


   Europa hängt beim Gas am Tropf aus Russland 

Die wahrscheinlichste Unterbrechung der Energieversorgung wäre nach Ansicht von Analysten derzeit bei den russischen Erdgasausfuhren zu erwarten. Russland exportiert täglich rund 23 Milliarden Kubikfuß oder umgerechnet rund 651 Millionen Kubikmeter Gas, was etwa 25 Prozent des Welthandels entspricht. Und laut Cowen gehen 85 Prozent dieses Gases nach Europa. Insbesondere Russlands Erdgasfluss nach Europa durch ein Pipelinenetz in der Ukraine könnte während eines Konflikts unterbrochen werden. Das Netz transportiert bei voller Kapazität etwa 4 Milliarden Kubikfuß pro Tag nach Europa, aber laut Cowen fließt derzeit nur etwa 50 Prozent.

Die russischen Erdgaslieferungen nach Europa waren in den vergangenen Monaten geringer als üblich. Sollte Russland die Erdgaslieferungen nach Europa weiter reduzieren oder die US-Sanktionen sie einschränken, hätten die europäischen Unternehmen Schwierigkeiten, die Lieferungen zu ersetzen. Die europäischen Gaspreise haben in letzter Zeit Rekorde erreicht, so dass der Markt bereits einen Großteil des überschüssigen Angebots an verflüssigtem Erdgas nach Europa leitet. Derweil sind die meisten der in Betrieb befindlichen LNG-Anlagen der weltgrößten Exporteure - die USA, Katar und Australien - voll ausgelastet, und es gibt nur wenig neues Angebot, das hinzugefügt werden könnte.


   Russland könnte sich ins eigene Fleisch schneiden 

Russland würde einen hohen Preis zahlen, wenn der Verkauf von fossilen Brennstoffen eingeschränkt wird. Laut der Investmentbank Raymond James ist etwa die Hälfte des russischen Staatshaushalts an Öl und Gas gebunden. Präsident Biden sagte, dass die von Russland gebaute Erdgaspipeline Nord Stream 2 nach Deutschland im Falle eines Einmarsches in die Ukraine eingestellt würde. Das würde laut Raymond James allein für das staatliche Energieunternehmen Gazprom eine Abschreibung in Höhe von 11 Milliarden Dollar bedeuten. Eine Verringerung des Erdgasangebots könnte auch Auswirkungen auf die Ölmärkte haben, da ein harter Wettbewerb und höhere Gaspreise einige Kraftwerke und andere, die mit Gas betrieben werden, dazu zwingen könnten, stattdessen Öl zu verwenden, was letztlich zu höheren Ölpreisen führen würde, so die Analysten.

Selbst wenn die USA nicht gegen die russische Energiewirtschaft vorgehen, könnten andere Sanktionen dennoch Auswirkungen auf die Rohstoffmärkte haben. Sanktionen gegen Finanzinstitutionen dürften zum Beispiel die Finanzierung von Energiegeschäften erschweren, so Analyst Matthew Reed von der in Washington ansässigen Beratungsfirma Foreign Reports. Reed äußert die Befürchtung, dass eine zweite Runde von Sanktionen, falls die erste nicht zur Abschreckung Russlands führt, direkt die Energieversorgung betreffen könnte. "Das wirkliche Risiko ist hier nicht unbedingt die erste Runde der Sanktionen", erläutert Reed. "Es ist die zweite Runde, die danach kommt, wenn jeder merkt, dass die erste Zeitverschwendung war."

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February 14, 2022 04:50 ET (09:50 GMT)