Von Jon Sindreu

LONDON (Dow Jones)--Angesichts der aktuell stark steigenden Verbraucherpreise müssen Notenbanker gegenwärtig der Versuchung widerstehen, die Leitzinsen zu erhöhen. Der Boom am Immobilienmarkt könnte das für sie noch schwieriger machen.

In etlichen Ländern wird die Geldpolitik bereits gestrafft. Wie Daten der Bank of America zeigen, gab es im laufenden Jahr bisher acht Zinssenkungen und 19 Zinserhöhungen, letztere unter anderem von den Zentralbanken in Russland, Brasilien und der Türkei. Die Aussicht auf Ende der geldpolitischen Anreize auch in wohlhabenden Ländern drückt auf die Stimmung der Anleger. Aktien haben einen Rückschlag erlitten, seit die Federal Reserve am Mittwoch vergangener Woche eine mögliche Zinserhöhung für das Jahr 2023 andeutete.

Am Donnerstag kündigte die norwegische Zentralbank an, sie werde mit ziemlicher Sicherheit dafür sorgen, dass Kreditkosten schon im September steigen werden. Damit eilt sie der US-Notenbank und sogar der Reserve Bank of New Zealand deutlich voraus, die im März als erste Zinserhöhungen in Aussicht stellten und damit die Finanzmärkte verschreckten.


 Präzedenzfall Norges Bank 

Industrieländer haben normalerweise viel mehr Spielraum, die Zinsen niedrig zu halten als Schwellenländer, da sie weit weniger unter Schwankungen von Rohstoffpreisen sowie Dollar-Kursen leiden. Die Norges Bank begründete ihre Entscheidung jedoch damit, dass sie "Gewicht auf den deutlichen Anstieg der Hauspreise legt."

Weltweit steigen die Preise für Wohnimmobilien rasant. Der norwegische Markt war bereits vor der Pandemie sehr teuer. Seit Januar 2020 sind dort die Hauspreise nochmals um zwölf Prozent gestiegen. In den USA, in Großbritannien und Deutschland zogen die Preise um 15, 13 und 16 Prozent an. Und in China wird der Immobilienmarkt abermals zum wichtigsten Treiber des Wirtschaftswachstums.

In der Theorie legen die Zentralbanken die Zinssätze auf der Grundlage der Inflation fest und im Falle der Fed auch mit Blick auf die Arbeitsmarktdaten. Nach der Hypothekenkrise 2008 begannen Geldpolitiker vielerorts, auch finanzielle Ungleichgewichte zu berücksichtigen.

Viele an der Wall Street weisen inzwischen darauf hin, dass steigende Hauspreise die aktuell höhere Inflation noch längere Zeit nähren könnten. Die Ausgaben für das Dach über dem Kopf haben in den Warenkörben der Verbraucher bereits ein so großes Gewicht, dass ein kleiner Anstieg sie zum Hauptfaktor der Mai-Inflation macht, vorausgesetzt, man rechnet die rohstoffbezogenen Positionen heraus: so geschehen in den USA, in Großbritannien und in der Eurozone. Anstatt Anlegern zu helfen, damit zurechtzukommen, könnten diese Argumente die Zentralbanker zu einem Fehler verleiten.


 Was ist entscheidend - Mieten oder Hauspreise? 

Im Vergleich zu den Trends des Jahres 2019 blieben die Kosten für Wohnen bislang gedämpft. Einige Analysten entgegnen, dass die kalkulatorischen Mieten - die hypothetische Miete, die Statistiker Eigennutzern zuschreiben - lediglich die Marktmieten abbilden und nicht die wahren Wohnkosten, die sich aus steigenden Immobilienpreisen ergeben. Aber es sind die Mieten, nicht die Hauspreise, die widerspiegeln, was die Menschen bereit sind zu zahlen, um irgendwo zu wohnen, genauso wie die Gewinne die Rentabilität eines Unternehmens darstellen, und nicht der Aktienkurs. Die Bewertungen von Vermögenswerten können sich auch aus anderen Gründen nach oben oder unten bewegen. In diesem Fall reagieren sie wahrscheinlich auf die niedrigen Zinssätze, die auch die Hypothekenkosten im letzten Jahr nach unten gedrückt haben.

Selbst wenn die Märkte von den niedrigen Zinsen profitiert haben, sind die Verantwortlichen normalerweise nicht versucht, sie zu erhöhen, nur um dem Aktienmarkt seine Grenzen aufzuzeigen. Das Gleiche sollte auch für Immobilien gelten: Die Sorge der Geldpolitiker sollte sich nicht um die Hauspreise selbst drehen, sondern darum, dass Haushalte zu viele Schulden aufnehmen. Wirksamer könnten deshalb "makroprudenzielle Maßnahmen" sein, um das Finanzsystem insgesamt krisenfester zu machen. Regulierungen und zusätzliche Kapitalbeschränkungen für Banken kämen dafür in Frage.

Für Anleger hängt jetzt viel davon ab, dass die Zinsentscheider einen kühlen Kopf bewahren, wenn die Wirtschaftsdaten anziehen. Der Präzedenzfall Norwegens könnte ein gefährliches Signal setzen.

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June 21, 2021 05:15 ET (09:15 GMT)