Der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) hat beschlossen, die Zinsen um 50 Basispunkte anzuheben. Die erste Zinserhöhung seit elf Jahren war damit stärker als von Analysten erwartet, die einen Zinsschritt von nur 25 Basispunkten prognostiziert hatten. Die EZB stellte außerdem eine weitere Zinsnormalisierung in Aussicht, über die von Sitzung zu Sitzung entschieden werden soll. Zudem stellte sie ein Programm zur Begrenzung der Renditeabstände (Spreads) von Euroraum-Staatsanleihen vor, das den Namen Transmission Protection Instrument (TPI) hat.

Einschätzung von Analysten und Verbänden zu den geldpolitischen Entscheidungen:


Berenberg: EZB wird TPI-Käufe "flexibel" sterilisieren 

Die Europäische Zentralbank (EZB) wird den Liquiditätseffekt von Anleihekäufen unter dem neuen TPI-Programm nach Meinung von Berenberg-Chefvolkswirt Holger Schmieding nicht strikt sterilisieren. "Sie wird dabei sehr flexibel vorgehen, etwa wie bei der Orientierung von Käufen unter anderen Anleihekaufprogrammen am EZB-Kapitalschlüssel", sagt Schmieding. Für wichtig hält der Analyst, dass der EZB-Rat das TPI einstimmig beschlossen hat, obwohl mit dem neuen Programm eine weitere Verwischung zwischen Fiskal- und Geldpolitik drohe. "Da das deutsche Verfassungsgericht wahrscheinlich die Bundesbank als Zeugin in einem etwaigen Rechtsstreit aufrufen würde, könnte ein positives Urteil der Bundesbank einen wichtigen Unterschied machen, argumentiert er."


Commerzbank: EZB erhöht Zinsen im September um 25 Basispunkte 

Nachdem die Europäische Zentralbank (EZB) ihre Zinsen unerwartet um 50 Basispunkte erhöht und ihre Zins-Guidance kassiert hat, rechnet Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer für September mit einem Zinsschritt von nur 25 Basispunkten. Krämer macht in einem Kommentar darauf aufmerksam, dass EZB-Präsidentin Christine Lagarde auf die Datenabhängigkeit des weiteren Zinskurses und auf Abwärtsrisiken für die Konjunktur durch den Ukraine-Krieg verwiesen habe. Krämer schreibt weiter: "Bei dem heutigen Zinsschritt um 50 Basispunkte handelt es sich also um ein bloßes Vorziehen. Wir sehen den vorläufigen Zinshöhepunkt im Frühjahr nächsten Jahres unverändert bei 1,50 Prozent."


DIW-Chef: Wegweisendste Entscheidung der vergangenen 20 Jahre 

Die EZB hat mit ihren geldpolitischen Schritten nach Ansicht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) "eine historische Entscheidung und eine der wegweisendsten der vergangenen 20 Jahre" getroffen. DIW-Präsident Marcel Fratzscher erklärte, die wichtigste Aufgabe der EZB sei es nun, ein Anker der Stabilität im Euroraum zu sein und somit eine noch tiefere Krise zu verhindern. "Die EZB hat mit ihrer Entscheidung einen richtigen Mittelweg zwischen Forderungen nach einer restriktiveren Geldpolitik und einer stärkeren Unterstützung der verletzlichsten Mitgliedsländer gewählt. Das neue geldpolitische Instrument TPI ist das notwendige Gegengewicht zum nun schnelleren Zinsanstieg in den kommenden Monaten", so Fratzscher. TPI sei einerseits klug, andererseits aber auch riskant. "Denn es ist unklar, wie dieses Instrument genutzt werden wird. Die Konditionalität des Instruments ist so gering, dass es de facto der EZB kaum Begrenzungen geben dürfte", so Fratzscher.


Nordea: Daten werden wichtiger - EZB-Kommunikation unwichtiger 

Nordea-Analyst Jan von Gerich rechnet für September und Oktober mit weiteren Zinserhöhungen um 50 Basispunkte durch die Europäische Zentralbank (EZB). "Man sollte von nun an mehr auf die demnächst anstehenden Daten und weniger auf die Äußerungen von EZB-Ratsmitgliedern achten", schreibt er in einem Kommentar. Ohne jegliche EZB-Guidance könnten die Märkte nun noch mehr das einpreisen, worauf die Daten hindeuteten. Von Gerich bezweifelt, dass das Instrument zur Spread-Kontrolle (Transmission Protection Instrument - TPI) wirksam sein wird und rechnet mit einem baldigen Anstieg der italienischen Spreads.


Ifo-Präsident kritisiert Beschluss zur Begrenzung von Zinsdifferenzen 

Clemens Fuest, der Präsident des Ifo-Instituts, sieht den Beschluss der EZB kritisch, die Zinsdifferenzierung zwischen den Ländern der Eurozone zu beschränken. "Zinsdifferenzen gehören zu einem funktionierenden Kapitalmarkt, weil sie unterschiedliche Niveaus von Risiken widerspiegeln und private Investoren überzeugt werden müssen, diese Risiken einzugehen". Hier bestehe die Gefahr, dass die EZB die Grenze zur Staatenfinanzierung überschreite, ihre Unabhängigkeit gefährde und für die Finanz- und Wirtschaftspolitik die falschen Anreize setze, so Fuest. Die Zinserhöhung dagegen sei "ein wichtiges Signal, dass die EZB gegen die Inflation vorgehen will." Diese helfe, den Anstieg der Inflationserwartungen bei Unternehmen und privaten Haushalten zu dämpfen. Positiv sei auch die Ankündigung, weitere Zinsschritte folgen zu lassen, abhängig von der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung.


Brzeski (ING): Kampf um Glaubwürdigkeit bei Inflationsbekämpfung 

Die Entscheidungen zeigen aus Sicht von ING-Chefvolkswirt Carsten Brzeski, dass die Falken kalte Füße bekommen haben müssen, da sie befürchteten, dass die versprochene Zinserhöhung von mehr als 25 Basispunkten im September durch die drohende Rezession zunichte gemacht werden könnte. Die Einigung auf einen TPI wiederum haben von den Tauben mit einer stärkeren Zinserhöhung erkauft werden müssen. Es sei klar, dass die Zinserhöhung die Inflation kurzfristig nicht senken wird - auch nicht auf der Nachfrageseite der Wirtschaft, die viel stärker auf die sich abzeichnende Rezession als auf jede Maßnahme der EZB reagieren wird. Die Anhebung sowie mögliche weitere Erhöhungen zielen alle darauf ab, die Inflationserwartungen zu senken und den beschädigten Ruf und die Glaubwürdigkeit der EZB als Inflationsbekämpferin wiederherzustellen. Die heutige Entscheidung zeigt, dass die EZB mehr um diese Glaubwürdigkeit als um ihre Vorhersehbarkeit besorgt ist. Dies ist wichtiger als die Forward Guidance.

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July 21, 2022 11:15 ET (15:15 GMT)