Von William Boston

BERLIN (Dow Jones)--Die Chefs einiger der größten deutschen Unternehmen werden Anfang nächsten Monats mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zusammentreffen. Das Ziel: Im Rahmen der Wirtschaftsdiplomatie sollen alle Seiten im Ukraine-Konflikt dazu gebracht werden, von einem Krieg Abstand zu nehmen. Die deutsche Wirtschaft hat erhebliche Investitionen in Russland und in ganz Osteuropa, einschließlich der Ukraine. Und viele Führungskräfte sind zunehmend besorgt, dass eine weitere Eskalation ihr Geschäft im Speziellen und die europäische Wirtschaft im Allgemeinen beeinträchtigen könnte.

Die Lobbyarbeit von Unternehmensführern ist ein Grund für die vorsichtige Haltung, die Bundeskanzler Olaf Scholz seit Beginn der Krise an den Tag gelegt hat und die in Washington und einigen osteuropäischen Ländern auf Kritik gestoßen ist. Im Gegenzug haben Beamte in Deutschland und anderen westeuropäischen Ländern die Regierung von US-Präsident Joe Biden hinter vorgehaltener Hand dafür kritisiert, hinsichtlich des Risikos einer russischen Invasion in der Ukraine zu alarmistisch zu sein. Dies verschärfe die Spannungen eher noch. "Eine militärische Eskalation würde wirtschaftliche Folgen haben. Keiner will eine Eskalation. Vorrangig muss es darum gehen, eine Lösung des politischen Konflikts zu erreichen", beharrt Siemens-Energy-Chef Christian Bruch.


   Liste der beteiligten Konzerne liest sich wie "Who is who" der deutschen Wirtschaft 

Es steht viel auf dem Spiel. In den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres exportierte Deutschland nach Russland Waren im Wert von rund 25 Milliarden Euro, ein Anstieg um 15 Prozent gegenüber dem Vorjahr, wie aus offiziellen deutschen Statistiken hervorgeht. Im gleichen Zeitraum importierte Deutschland Waren aus Russland im Wert von 29 Milliarden Euro, was einem Anstieg von 48 Prozent entspricht. Neben seiner Tätigkeit in der Wirtschaft ist Bruch Vorstandsmitglied des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, einer Lobbygruppe, die Interessen deutscher Unternehmen vertritt, die in Russland und Ländern des ehemaligen Warschauer Paktes tätig sind. Der Spitzenverband lehnt es ab, bekannt zu geben, welche seiner Mitglieder an dem Treffen mit Putin teilnehmen werden. Aber zu den Mitgliedern der Gruppe gehören viele der größten deutschen Unternehmen, wie Siemens, Bayer, die Deutsche Bank, SAP und Volkswagen.

Der Ost-Ausschuss richtet das für Anfang März geplante Treffen mit Putin aus, wie er es seit Langem jährlich getan hat, bis die Covid-19-Pandemie zur Absage des letztjährigen Treffens führte. Die Organisation lehnte es ab, das genaue Datum des Treffens zu nennen. In den USA haben republikanische und einige demokratische Abgeordnete Deutschland vorgeworfen, ein unzuverlässiger Verbündeter zu sein. Das Land stünde einer härteren Reaktion der Nato auf Russlands militärische Aufrüstung nahe der ukrainischen Grenze im Wege. Viele machen die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von russischer Energie - das Land importiert mehr als die Hälfte seines Gases aus Russland - und die engen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern dafür verantwortlich.


   Vertreter der deutschen Wirtschaft sprechen mit beiden Seiten 

Michael Harms, der Geschäftsführer des Ost-Ausschusses, wies Vermutungen zurück, dass Deutschland seine westlichen Verbündeten verrate, um eigene wirtschaftliche Interessen zu fördern. "Deutschland erfüllt alle seine Verpflichtungen innerhalb der Nato und der EU", betonte er kürzlich in einem Interview mit dem Wall Street Journal. Er fügte hinzu, dass der Ost-Ausschuss eng mit hochrangigen Beamten sowohl in Moskau als auch in Kiew spricht. "Wir signalisieren der russischen Seite, dass ein solcher Truppenaufmarsch für unsere Wirtschaftsbeziehungen nicht hilfreich ist und dass alles getan werden muss, um diese Spannungen wieder abzubauen." Bruch wies Vermutungen zurück, das Treffen mit Putin spiele dem russischen Staatschef in einer Zeit in die Hände, in der die Nato-Regierungen versuchten, eine geschlossene Front zu zeigen.

"Ich habe diese Gespräche immer als ein erstaunlich offenes Format erlebt", berichtet Bruch und fügt hinzu, dass Vertreter der deutschen Regierung immer an den Treffen beteiligt seien. Der 1952 von Bundeskanzler Konrad Adenauer und seinem Wirtschaftsminister Ludwig Erhard gegründete Ost-Ausschuss sollte ursprünglich ein diplomatisches und handelspolitisches Beratungsgremium für die junge westdeutsche Regierung sein. Nach dem Krieg machte sich Westdeutschland daran, seine Wirtschaft wieder aufzubauen, indem es die abgebrochenen Handelsbeziehungen wiederherstellte. Der neuen Regierung fehlte jedoch eine diplomatische Vertretung, insbesondere in Osteuropa und Russland.


   Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft heute ein wichtiger Lobbyist 

Der Ost-Ausschuss sprang in dieses politische Vakuum ein und wurde zu einem diplomatischen Schattenkorps, das den Weg für die ersten Abkommen Westdeutschlands mit der Sowjetunion über die Lieferung von Erdgas im Austausch gegen die für den Bau von Pipelines erforderlichen Rohre und den Zugang zu westlichen Bankfinanzierungen ebnete. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde der Ost-Ausschuss zu einer Art Dienstleister für die deutsche Wirtschaft, der seine Netzwerke nutzte, um Unternehmen bei der Erschließung neuer Märkte zu helfen, sagt Sven Jüngerkes, Historiker und Autor eines Buches über den Spitzenverband. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts erlebte der Ost-Ausschuss unter Klaus Mangold eine Renaissance. Der ehemalige Daimler-Manager mit engen Verbindungen zu Russland und russischen Oligarchen leitete ihn von 2000 bis 2010 und machte den Ost-Ausschuss zu der Lobbyorganisation, die er heute ist.

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February 10, 2022 09:42 ET (14:42 GMT)