MÜNCHEN (dpa-AFX) - Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hat ein "Überhandnehmen nationaler Egoismen" und zunehmend anti-europäische Strömungen in der EU beklagt. In der Flüchtlings- und Sicherheitspolitik wie in der Wirtschafts- und Finanzpolitik seien gemeinsame Lösungen notwendig, sagte Schäuble am Freitag bei einem Festakt zur Pensionierung von Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn in München. Aber die Bereitschaft zur Verlagerung von Kompetenzen auf europäische Ebene sei gering.

Dem Münchner Professor sei er "für wissenschaftlichen Rat dankbar und für unterschiedliche Meinungen", sagte Schäuble. Vor drei Jahren hatte er ihm wegen Kritik an den Kosten der Griechenland-Hilfen "Milchmädchenrechnungen" vorgeworfen. "Gottseidank ist er nicht so empfindlich", sagte Schäuble.

Sinn hat das Münchner Ifo-Institut 17 Jahre lang geleitet und geht nach seinem 68. Geburtstag im März in Pension. Der monatlich veröffentlichte Ifo-Geschäftsklimaindex gilt heute als wichtigster Frühindikator für die deutsche Wirtschaft. Der Professor mit dem markanten Bart gehört zu den bekanntesten und streitbarsten deutschen Ökonomen. Sein Nachfolger als Ifo-Chef wird der Mannheimer Professor Clemens Fuest, derzeit Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW).

Bundesbank-Präsident Jens Weidmann lobte Sinn als herausragenden Wissenschaftler, der das Ifo-Institut zu einer angesehenen Forschungseinrichtung gemacht und mit seinen Argumenten die politische Debatte über Jahrzehnte mitgeprägt habe. In seinem Buch "Kaltstart" habe er schon 1991 richtig vorausgesagt, dass die Lohnerhöhungen in den neuen Bundesländern zu mehr Arbeitslosigkeit führen werden. Später sei er einer der Wegbereiter von Kanzler Gerhard Schröders Agenda 2010 gewesen. "Und das Rezept hat funktioniert: Die Arbeitslosigkeit sank und die Beschäftigung stieg", sagte Weidmann. Der jetzt eingeführte Mindestlohn und die Rente mit 63 könnten dagegen könnten als Roll-back gesehen werden.

Der Bundesbank-Chef warnte vor Gefahren der Vergemeinschaftung von Finanzrisiken in der EU. Viele Volkswirte sähen eine europäische Transferunion skeptisch: "Entscheidungen würden vor allem auf nationaler Ebene getroffen, während die Konsequenzen dieser Entscheidungen über die gesamte Eurozone verteilt würde", sagte er und kritisierte die immer wieder geforderten Eurobonds: "Ohne eine Übertragung von nationalen Haushaltsrechten auf die europäische Ebene würde ein solcher Aufbau die Anreize für vernünftige und nachhaltige Politikentscheidungen in den Mitgliedsstaaten untergraben."

An dem ganztägigen Symposium und dem Festakt zum Abschied Sinns nahmen mehrere Dutzend Professoren aus aller Welt und viele Studenten teil./rol/DP/she