Von Jon Sindreu

NEW YORK (Dow Jones)--Risikokapitalgeber meiden seit dem Ukraine-Krieg immer seltener das Geschäft mit Rüstungsgütern. Zuletzt ging die Farnborough International Airshow zu Ende, auf der sich die Luftfahrtbranche zum ersten Mal seit Ausbruch der Pandemie wieder vollständig versammelte. Abgesehen von einer anständigen Anzahl von Aufträgen für Boeings einst angeschlagene 737 MAX und einer Menge Grübeleien über Verzögerungen in der Lieferkette war bemerkenswert, wie sich die Messe subtil verändert. Startups aus der Luft- und Raumfahrtbranche müssen nicht mehr flüstern, wenn sie über ihr militärisches Potenzial sprechen.

Das in Denver ansässige Unternehmen Boom Supersonic, das die Concorde mit mehr Komfort und niedrigeren Flugpreisen wiederbeleben will, kündigte eine Zusammenarbeit mit Northrop Grumman an, um Einsatzmöglichkeiten für das Flugzeug in der Rüstung zu finden. Boom hat bereits Vereinbarungen mit der US Air Force getroffen, um möglicherweise Diplomaten und Führungskräfte zu transportieren. Bisher hatte der Gründer und Geschäftsführer des Unternehmens, Blake Scholl, der aus der Technologiebranche kommt, jedoch gezögert, viel weiter zu gehen. Die Partnerschaft mit Northrop wird zwar nichts beinhalten, was auf dem Boden eine Detonation auslöst. Aber sie könnte zu vollwertigen militärischen Aufgaben wie Aufklärung, Kommando und Kontrolle sowie Truppentransport führen. "Ich sehe das nicht als eine Bewaffnung des Flugzeugs an", stellte Scholl zuletzt klar.


   Selbst Tech-Riesen wie Amazon buhlen um Rüstungsaufträge 

Für ihn ergibt es durchaus Sinn, "sich die andere Hälfte des Marktes" zu erschließen, wie er es nannte. Fast alle großen Luft- und Raumfahrtunternehmen bieten beides an. Und in einem unruhigen Markt, der Unternehmen wie Boom den Wind entgegen bläst, brauchen Startups neue Kapitalquellen. Schließlich sind es die militärischen Anwendungen, in denen der Überschallantrieb heute noch überlebt, wenn man bedenkt, dass seiner kommerziellen Nutzung viele Hindernisse im Wege stehen - wie etwa die hohen Kohlenstoffemissionen. Die Tatsache, dass Boom dies in einer auffälligen Präsentation zugegeben hat, zeigt jedoch, dass selbst "sexy" Startups, die Silicon Valley-Typen ansprechen, heute weit weniger verlegen sind, ihre Verbindungen zur Rüstungsbranche öffentlich zu machen.

In jüngster Zeit haben der Anstieg der Pentagon-Budgets und die Reife des Technologiesektors Riesen wie Amazon, Google und Oracle dazu gebracht, sich intensiv um Verteidigungsaufträge zu bewerben. Damit ebnen sie auch den Weg für eine Reihe jüngerer Akteure, die diesen Markt direkt bedienen, wie Palantir, Anduril und den Drohnenhersteller Shield AI. Im Gegensatz dazu hatte die erneute Fokussierung der Investmentbranche auf Umwelt-, Sozial- und Governance-Faktoren - allgemein als ESG bekannt - zwar Gelder von militärischen Auftragnehmern weggelenkt. Doch der Einmarsch Russlands in die Ukraine zu Beginn dieses Jahres scheint alle vermeintlichen ethischen Bedenken aus dem Weg geräumt zu haben. Raytheon-Chef Greg Hayes argumentiert, dass Rüstungsunternehmen die Demokratie verteidigten, und das erscheint als das neue Narrativ. "Vor zwei Jahren wollten viele der europäischen Geldgeber Raytheon nicht anfassen", berichtet Hayes in einem Interview. "Plötzlich sind wir aus ESG-Perspektive investierbar geworden, und zwar wegen unserer Mission."


   Rüstungskonzerne sind plötzlich reif für ESG-Siegel 

Viele skandinavische Investmentgesellschaften, darunter SEB, haben ihren Sinneswandel bekannt gegeben. Es gibt sogar ernsthafte Lobbying-Versuche, um die EU dazu zu bewegen, Rüstungsunternehmen in ihre neue standardisierte ESG-Taxonomie aufzunehmen. Militäraktien sind in diesem Jahr um 8 Prozent emporgeschnellt, während der S&P 500 um 16 Prozent absackte. Eine wichtige Erkenntnis ist, dass das Gerede über ESG nahezu bedeutungslos ist und zugunsten von alleinstehenden "E"-Kennzahlen verworfen werden sollte. Die ethischen Kennzahlen sind die einzigen, die objektiv und ohne Rückgriff auf die politischen Ansichten des Tages gemessen werden können.

Zum anderen könnten angesichts der zunehmenden geopolitischen Spannungen einige der derzeit von den öffentlichen Märkten verschmähten "Mondprojekte" einen Sponsor in der Finanzierung durch das Militär finden. Dazu gehören Kleinsatelliten-Träger wie Rocket Lab und Virgin Orbit, die gerade damit beginnen, sich das Interesse Washingtons an "reaktionsschnellen" Starts und Hyperschallwaffen zunutze zu machen. Außerdem gibt es Lufttaxi-Hersteller wie Joby Aviation, die an militärischen Anwendungen arbeiten, diese aber zugunsten einer unklaren Passagiernachfrage zurückgestellt haben. In einem turbulenten Markt bringt nichts mehr Sicherheit als Geld aus dem Pentagon.

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July 25, 2022 03:13 ET (07:13 GMT)