Von Carol Ryan

LONDON (Dow Jones)--Die Energiepreise und -aktien haben sich in den vergangenen Monaten in unterschiedliche Richtungen bewegt. Der Wind wird sich künftig in die ein oder andere Richtung drehen. So fiel der Referenzpreis für Rohöl der Sorte Brent auf etwa 80 US-Dollar pro Barrel, nachdem er im Jahr 2022 im Durchschnitt 101 Dollar betragen hatte. Chinas chaotische Wiedereröffnung nach fast drei Jahren Covid-Beschränkungen und die Aussicht auf eine weltweite Rezession infolge steigender Zinssätze haben die Aussichten für die Ölnachfrage geschwächt. Auch bei den Erdgaspreisen verlief der Start ins Jahr 2023 verhalten. Die Großhandelspreise für Erdgas in Nordwesteuropa liegen jetzt bei 70 Euro pro Megawattstunde.

Damit sind sie wieder auf das Niveau vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine zurückgefallen und haben sich deutlich von dem Höchststand von 350 Euro im August entfernt. Damals legte die EU verzweifelt Vorräte für den Winter an, nachdem der Kreml die Pipelines gekappt hatte. Wegen des ungewöhnlich warmen Wetters sind die Gasspeicher in der Region zu 83 Prozent gefüllt und dürften bis zum Ende der laufenden Heizsaison in einem besseren Zustand sein als erwartet.

Dennoch sind Energieaktien nach wie vor im Höhenrausch. In den vergangenen zwei Monaten haben Titel wie Shell und BP zwar einen Teil der auffälligen überdurchschnittlichen Kursentwicklung des Vorjahres gegenüber den breiten europäischen Märkten wieder abgegeben. Aber sie sind auch nicht dem Einbruch der Öl- und Gaspreise gefolgt. Großzügige Aktienrückkaufprogramme sind ein Teil der Erklärung dafür. Im vergangenen Jahr erreichte der freie Cashflow der integrierten europäischen Energieunternehmen 141 Milliarden Dollar und war damit fast doppelt so hoch wie im Jahr 2021, so das Brokerhaus Bernstein. Infolgedessen erhöhten sie ihre Dividenden und kündigten Aktienrückkäufe im Wert von 42 Milliarden Dollar an, verglichen mit 9 Milliarden Dollar im Jahr zuvor. Shell, auf das fast die Hälfte dieser Summe entfällt, kauft derzeit rund 20 Prozent seines täglichen Handelsvolumens.


   Globales LNG-Angebot dürfte knapp bleiben 

Diese Großzügigkeit kann sich nur fortsetzen, solange die Unternehmen mehr Geld als üblich verdienen, insbesondere angesichts zusätzlicher Steuern. Shell erklärte vergangene Woche, dass es für das vierte Quartal 2 Milliarden Dollar unerwartete Abgaben an EU und Großbritannien überweisen muss. Letztendlich könnte dies auf eine Spekulation darauf hinauslaufen, ob die Flaute bei den Energiepreisen nur vorübergehend ist. Europa wird bald seine Gasspeicher für einen weiteren Winter ohne russische Pipelines auffüllen müssen, auf die es vor dem Krieg angewiesen war. Selbst wenn die Speicher gut gefüllt sind, wird die Region einen Aufschlag gegenüber asiatischen Abnehmern zu zahlen haben, um LNG-Ladungen per Tanker zu erhalten.

Chinesische Großabnehmer, die im vergangenen Jahr 20 Prozent weniger als üblich gekauft haben, dürften wieder auf den Markt kommen, sobald das Land vollständig geöffnet ist. Und das weltweite LNG-Angebot sollte knapp bleiben, da eine nennenswerte zusätzliche Produktion erst ab 2025 erwartet wird.

Auf den Ölmärkten hat der Kreml unterdessen Verkäufe an Länder untersagt, die sich an die kürzlich von der G7 auferlegte Obergrenze von 60 Dollar für den russischen Ölpreis halten. Der stellvertretende Ministerpräsident des Landes, Alexander Novak, erklärte außerdem, dass Russland seine Produktion als Reaktion auf die Obergrenze um bis zu 7 Prozent kürzen könnte, was das weltweite Angebot verringern würde. Auch könnte es in diesem Jahr einen kräftigen Käufer auf dem Markt geben, wenn die Regierung von US-Präsident Joe Biden damit beginnt, die strategische Erdölreserve wieder aufzufüllen. Allerdings dürfte Washingtons Bestreben, unter dem aktuellen Marktpreis zu zahlen, darauf hinauslaufen, dass es nur langsam vorangeht.


Kein Frieden in der Ukraine in Sicht 

Ein Friedensabkommen, das die Spannungen zwischen Moskau und Kiew beendet und die russischen Öl- und Gasströme wieder normalisiert, würde das Bild auf den Kopf stellen, aber das scheint im Moment noch weit hergeholt zu sein. Das große Risiko für den heutigen Aufwärtskonsens besteht daher darin, dass sich die makroökonomischen Nachrichten immer weiter verschlechtern und die Produzenten schließlich dazu zwingen, ihre Rückkäufe zu drosseln. Die Ergebnisse des vierten Quartals könnten einige Anhaltspunkte liefern, aber es wird auch noch viele andere geben. Wer in diesem Jahr auf Energieaktien setzen will, muss die makroökonomischen Entwicklungen ständig im Auge behalten.

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January 09, 2023 10:41 ET (15:41 GMT)