Von Jon Sindreu

CHICAGO (Dow Jones)--Boeings Ambitionen beim Bau eines neuen Mittelstrecken-Jets könnten die richtige Idee zur falschen Zeit sein - und das nicht zum ersten Mal. Im vergangenen Jahr begann der Hersteller aus Chicago Gespräche mit Kunden über den Bau eines solchen Jets mit nur einem Kabinengang (Single-Aisle). "Schmalrumpfflugzeug" ist die gängige Bezeichnung dafür.

Als Boeing im Januar seine Ergebnisse des vierten Quartals präsentierte, wurden die Pläne fast schon zur Gewissheit: Der Vorstandsvorsitzende David Calhoun sah das nächste Flugzeug tatsächlich in der "Mitte des Marktes" zwischen internationalen Langstrecken- und Kurzstreckenflügen im Inland. Damit scheinen die Spekulationen beendet, wonach Boeing einen Ersatz für die in Schwierigkeiten geratenen 737 Max priorisieren könnte, die mittlerweile jedoch wieder fliegt. Es ist weise, die Max-Verkäufe nicht durch Gerede über einen Ersatz zu unterlaufen.

Vergangene Woche nahm die Begeisterung nochmals zu, nachdem die Fachzeitschrift Aviation Week berichtete, dass der neue Jet, anders als zunächst gedacht, ein Modell mit breitem Rumpf und zwei Gängen sein könnte. Damit würde Boeing zurückgreifen auf das "New Midsize Airplane-Projekt", das der Hersteller bereits aufgegeben hatte, als Calhoun im vergangenen Jahr die Führung übernahm. Dieses Mal würde die Baureihe jedoch nicht nur zwei Modelle für 225 bzw. 275 Passagiere, sondern auch eine dritte, kleinere Variante umfassen.


   Frühere Versuche liefen ins Leere 

An diesem Punkt war Boeing schein einmal. 1982 zielte der Flugzeugbauer mit der 757 und der 767 ebenfalls auf die Mitte des Marktes. Die 757 mit 200 Sitzplätzen war ihrer Zeit jedoch zu weit voraus: Das Flugzeug gewann nie große Popularität und fand erst in den 1990er Jahren seinen Platz als umfunktionierter transatlantischer Jet.

Jetzt ist der Markt, für den die 757 entwickelt wurde, einer der vielversprechendsten in der Luftfahrt. Er könnte sogar auf Kosten der durch die Pandemie geschwächten Hub-and-Spoke-Netzwerke noch wachsen. Bei Hub-and-Spoke wird die Verbindung zwischen zwei Endknoten nicht direkt, sondern über einen Zentralknoten geführt.

Boeing und Airbus haben bislang auf eine Dehnung ihrer kleineren Flugzeuge gesetzt. Die neuesten Varianten mit großer Reichweite - die 737-Max-10 und der A321XLR - werden voraussichtlich 2023 in Dienst gestellt. Bei den Verkäufen übertrifft der A321 sein Max-Äquivalent jedoch um das Vierfache. Zudem kann Boeing die 757 nicht mehr aktualisieren: Die Produktion wurde bereits im Jahr 2004 eingestellt, und die Lieferkette ist längst auseinandergefallen.


   Marktpotenzial ist vorhanden 

Investoren waren nie so richtig angetan von Boeings New-Midsize-Idee. Die alte Prognose von Boeing von 4.000 Verkäufen wurde als zu optimistisch angesehen. Einige Analysten rechneten allenfalls mit einer Ersatzbeschaffung für die kaum mehr als 700 Flugzeuge des Typs 767, die derzeit noch in Betrieb sind. Eine kleinere Variante könnte den adressierbaren Markt um das Doppelte vergrößern, da diese auch die 600 verbliebenen 757 Jets ablösen könnte. Allerdings würde ein solcher Jet auch im Revier der Max-10 wildern, und es bliebe abzuwarten, ob sich ein breiteres Flugzeug mit zwei Gängen gegenüber der schlankeren Konkurrenz von Airbus gut in Szene setzen könnte.

Dennoch hätte Boeing bereits vor Jahren das Wagnis eingehen und dem Projekt grünes Licht geben sollen. Ein großes Problem bei siebenstündigen Flügen ist nämlich, dass sie sich zu lang anfühlen, wenn man in einem kleinen, überfüllten A321 oder einer Max-10 zusammengepfercht sitzt. Sollte es einen Boom auf solchen Strecken geben, könnte sich eine Flotte breiterer Mittelstreckenflugzeuge als großer Erfolg erweisen.


   Neuer Jet könnte zu spät - oder zu früh - kommen 

Boeings Schuldenberg ist mit 52 Milliarden US-Dollar dreimal so hoch wie noch vor zwei Jahren. Aber auch daran sollten die Pläne nicht scheitern. Die Entwicklungskosten würden bei rund 20 Milliarden US-Dollar liegen, was nur zwei Jahren des prognostizierten operativen Cashflows des Unternehmens ab 2022 entspricht.

Das eigentliche Problem ist eher, dass die neue Mittelstrecken-Klasse bestenfalls um das Jahr 2030 in Dienst gestellt werden könnte - zu spät, um die Dominanz von Airbus zu brechen, und zu früh, um vom nächsten großen Sprung in der Triebwerkstechnologie zu profitieren.

Calhoun geht nicht davon aus, dass eine neue Triebwerkstechnologie annähernd so viel verändern wird wie früher. Der Flugzeugkörper sorge dank Verbundwerkstoffen immer noch für überlegene Ökonomie. Andererseits hängen zwei Drittel der Effizienz typischerweise von den Triebwerken ab. Und erneut aufrüsten könnte Airbus seinen A321 auch.

Wie sich am Beispiel der 757 gezeigt hat, kann das Timing genauso wichtig sein wie das Design. Warum sollte es diesmal anders sein?

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February 17, 2021 05:12 ET (10:12 GMT)