BERLIN (dpa-AFX) - Wachsende Sorgen trotz sinkender Inzidenzzahlen: Die Bundesregierung mahnt zur Vorsicht wegen der in Deutschland und Europa um sich greifenden Delta-Variante des Coronavirus. "Ich appelliere an alle Reisenden, sich sorgsam über das Infektionsgeschehen zu informieren, Testangebote anzunehmen und die Quarantänepflichten ernst zu nehmen", sagte Gesundheitsminister Jens Spahn dem "Handelsblatt" (Donnerstag). Kanzlerin Angela Merkel forderte auf einem EU-Gipfel in Brüssel einheitlichere Regeln der Mitgliedstaaten für Einreisende aus Gebieten mit der gefürchteten Variante. Diese gilt nicht nur als besonders ansteckend - es gibt auch Hinweise, wonach sie zu schwereren Krankheitsverläufen führen kann.

Auf die Frage, ob man trotz Delta-Variante sorglos seinen Urlaub buchen könne, entgegnete Spahn: "Grundsätzlich ja. Bei Reiseländern, die von der Delta-Variante bereits stark betroffen sind, sieht das aber anders aus." Dort sei das Risiko viel höher, sich anzustecken und die Virusvariante nach Hause zu bringen. Auf einen Urlaubssommer dürfe kein "Sorgenherbst" folgen, warnte der CDU-Politiker.

Nach Zahlen des Robert Koch-Instituts (RKI) wächst der Anteil der als besorgniserregend eingestuften Delta-Variante in Deutschland deutlich

- bei insgesamt weiter rückläufiger Sieben-Tage-Inzidenz von zuletzt

6,6 Infektionen auf 100 000 Einwohner (Stand 24.6.). Im Vergleich zur Vorwoche verdoppelte sich der Anteil in einer Stichprobe fast auf 15,1 Prozent, wie aus einem RKI-Bericht vom Mittwochabend hervorgeht.

Die Angabe bezieht sich allerdings auf die Woche vom 7. bis 13. Juni, weshalb befürchtet wird, dass der Anteil inzwischen - rund zwei Wochen später - weit höher ist. Denn die Daten weisen eine ungefähre Verdopplung im Wochentakt aus: zuletzt dreimal in Folge von 4 auf 8 auf 15 Prozent. Dieses Tempo war auch schon in anderen Ländern beobachtet und von Fachleuten befürchtet worden. Noch vor einigen Wochen hatte sich der Anteil der inzwischen in allen Bundesländern nachgewiesenen Variante laut RKI deutschlandweit recht konstant auf niedrigem Niveau bewegt.

Auch Bundeskanzlerin Merkel hatte am Mittwoch im Bundestag mit Blick auf die Delta-Variante vor Rückschlägen gewarnt. "Wir dürfen jetzt das, was wir gemeinsam erreicht haben, nicht leichtfertig riskieren", mahnte die CDU-Politikerin. Zwar sei die dritte Welle gebrochen - die Pandemie aber nicht vorbei. Die etwa in Portugal und Russland stark steigenden Neuinfektionen mit der Delta-Variante sowie der auch in Deutschland steigende Anteil an den Infektionen müsse "Warnung und Auftrag zugleich sein". Zurzeit hat Deutschland 14 Länder als Virusvariantengebiete eingestuft, darunter Großbritannien.

Im Kampf gegen die Pandemie wollte Merkel am Donnerstag bei den anderen Staats- und Regierungschefs der EU für einheitlichere Reiseregeln werben. Bei einer Regierungserklärung im Bundestag hatte sie vor der Abreise nach Brüssel betont, wie wichtig die enge Zusammenarbeit der EU in Krisen wie der Pandemie sei. Im ersten Corona-Schock sei national statt europäisch abgestimmt gehandelt worden. "Wir wissen heute, dass wir das besser können und das auch in Zukunft besser machen werden", sagte Merkel.

Der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, Carsten Watzl, hält Wachsamkeit trotz der scheinbar günstigen Fallzahlenentwicklung für angebracht, wie er der Deutschen Presse-Agentur sagte. "Die Fallzahlen von Alpha gehen ganz brav und deutlich zurück, aber die von Delta steigen leicht an." Nur weil die Delta-Mutante noch den kleineren Anteil am Infektionsgeschehen habe, gebe es bislang keinen Wiederanstieg. "Noch sind wir in der Waage. Aber es könnte sein, dass das jetzt ein Kipppunkt ist", sagte der Dortmunder Immunologe. Bei weiteren Lockerungen etwa oder vielen Einschleppungen aus dem Ausland könne sich die Lage wieder verschlechtern. "Das Gute ist: Wir haben einen Puffer, wir sind bei einer sehr niedrigen Sieben-Tage-Inzidenz."

Dem RKI-Bericht zufolge ist damit zu rechnen, dass die Delta-Mutante sich gegenüber den anderen Varianten durchsetzen wird. Noch dominiert die zuerst in Großbritannien entdeckte Variante Alpha (B.1.1.7) das Infektionsgeschehen, der Anteil an den positiven Fällen in der Stichprobe ist nun jedoch nach Wochen mit Werten von um 90 Prozent auf 74 Prozent geschrumpft. Die Anteile der ebenfalls besorgniserregenden Varianten Beta (entdeckt in Südafrika) und Gamma (entdeckt in Brasilien) sind wie bisher sehr niedrig.

In Großbritannien macht Delta inzwischen fast 90 Prozent aller Neuinfektionen aus, die Kurve steigt wieder an. Vorläufigen Erkenntnissen der englischen Gesundheitsbehörde zufolge dürfte die Mutante nicht nur ansteckender sein, sondern könnte auch häufiger zu schwereren Covid-19-Erkrankungen führen als die davor dominierende Alpha-Variante.

Trotz Ausbreitung der Delta-Variante: Erneute drastische Maßnahmen wie ein Lockdown des öffentlichen Lebens in Deutschland lassen sich nach Einschätzung von Kanzleramtsminister Helge Braun durch eine möglichst hohe Corona-Impfquote verhindern. Wenn zwei Drittel der Bürger, also rund 55 Millionen Menschen, sich impfen lassen sollten, "muss man dann auch nicht über einen Lockdown oder so nachdenken", sagte der CDU-Politiker am Donnerstag im ARD-"Morgenmagazin".

Laut RKI haben mit Stand Donnerstag (9.45 Uhr) 52,2 Prozent der Menschen in Deutschland (43,4 Millionen) mindestens eine Impfdosis gegen das Coronavirus erhalten. Etwa jeder Dritte (27,8 Millionen) ist nun vollständig gegen das Coronavirus geimpft. "Mit Blick auf die Delta-Variante halten wir das Impf-Tempo hoch", schrieb Spahn auf Twitter.

In der EU sollen bis Sonntag 220 Millionen Europäer mindestens einmal gegen Covid-19 geimpft sein - rund 60 Prozent der Erwachsenen. Die Zahl nannte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Donnerstag beim EU-Gipfel. Mit den Prognosen liegt die Kommission auf Kurs für ihr Impfziel: Bis Ende Juli soll so viel Impfstoff ausgeliefert sein, dass 70 Prozent der Erwachsenen mindestens eine Spritze bekommen können./jjk/DP/jha