Von Rochelle Toplensky

BERLIN (Dow Jones)--Die staatliche Rettungsaktion für einen der größten Energieversorger des europäischen Binnenmarktes bedeutet, dass der hiesige Energiesektor nicht mehr derselbe sein wird. Die am Mittwoch bekannt gegebene Verstaatlichung des deutschen Gasriesen Uniper macht deutlich, welche seismischen Verwerfungen der neue Kalte Krieg mit Russland in der einst verschlafenen Welt der europäischen Energieversorger ausgelöst hat. Investitionen in diesem Sektor werden sich dramatisch verändern.

Die Bundesregierung erklärte, dass sie 8 Milliarden Euro als Gegenleistung für neues Eigenkapital zu einem Nennwert von 1,70 Euro pro Aktie bereitstellen wird. Außerdem wird der Bund die Mehrheitsbeteiligung des finnischen Energieversorgers Fortum an Uniper zum gleichen Preis übernehmen.

Mit diesem Geschäft steigt der Einsatz, nachdem sich der erste Rettungsversuch des Staates, der erst vor zwei Monaten angekündigt wurde, als unzureichend erwiesen hatte. Die Aktien stürzten auf 1,31 Euro ab und sind in diesem Jahr um über 90 Prozent gefallen.


   Uniper wegen Russland-Abhängigkeit besonders gefährdet 

Es gibt Anklänge an die Finanzkrise von 2008. Uniper ist zu groß, um zu scheitern, und deutsche Regierungsvertreter warnten bereits vor einem Dominoeffekt. Nach Jahrzehnten der Liberalisierung besteht auf dem stark vernetzten europäischen Strommarkt die Gefahr einer Ansteckung. Große Versorgungsunternehmen wie Uniper sind in einer Vielzahl von Ländern tätig. Laut der Denkfabrik Bruegel wurden im vergangenen Jahr in der Europäischen Union über 2,7 Milliarden energiebezogene Transaktionen zwischen Unternehmen gemeldet.

Frankreich hat im Juli seinen eigenen Energieriesen EDF verstaatlicht, aber das war ein schon lange diskutierter Plan. Bis vor kurzem war Uniper eine Erfolgsgeschichte. Bis Anfang 2022 waren die Aktien seit der Ausgliederung durch E.ON im Jahr 2016 um 315 Prozent gestiegen. In den Kursen war auch ein satter Aufschlag enthalten, weil viele darauf spekulierten, dass Fortum das Unternehmen am Ende ganz übernehmen würde.

Es gibt noch andere europäische Versorgungsunternehmen, die als "too big to fail" gelten können, aber die meisten sind viel stärker diversifiziert und daher weniger gefährdet. Uniper ist eine besondere Situation, sagt Wanda Serwinowska, Analystin für Versorgungsunternehmen bei der Credit Suisse. Das Unternehmen war ein starker Unterstützer der Nord Stream-Pipelines und in hohem Maße von russischen Lieferungen abhängig.

Nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine war Uniper gezwungen, Gas auf dem Spotmarkt zu Preisen zu kaufen, die weit über den vertraglich vereinbarten Weiterverkaufspreisen lagen. Das verschlingt rund 100 Millionen Euro pro Tag und summiert sich laut der Uniper-Geschäftsführung in diesem Jahr bereits auf über 8,5 Milliarden Euro. Einige befürchten sogar jetzt noch, dass sich das jüngste Rettungspaket erneut als unzureichend erweisen könnte.

Für die Anleger bedeutet das alles eine große Unsicherheit. Die Minderheitsaktionäre von Uniper werden nach der Rettung nur noch wenig zu melden haben. Die Anleger der meisten anderen europäischen Energieversorger scheinen eine Verstaatlichung weniger fürchten zu müssen. Was jedoch auf jeden Fall droht, ist eine stärkere Regulierung, ähnlich wie bei den Banken nach der weltweiten Finanzkrise.


   Aufbau eines neuen Energiesystems braucht privates Kapital 

Noch vor wenigen Monaten schien der liberalisierte europäische Energiemarkt allen Anforderungen gewachsen. Teure Rettungsaktionen und ein neues Verständnis für Energiesicherheit haben jedoch das Pendel umschwingen lassen. Die nationalen Regierungen und die EU haben es eilig, Notmaßnahmen zu verabschieden, um Unternehmen und Haushalte vor Preiserhöhungen zu schützen. Die Diskussionen über eine umfassendere Marktreform nehmen ebenfalls an Fahrt auf. Auch wird immer wahrscheinlicher, dass das System der leistungsabhängigen Grenzleistungspreise für Strom, das die Strompreise an die Gaspreise koppelt, viel früher als bisher erwartet korrigiert werden muss.

In einem entscheidenden Punkt unterscheidet sich Energie deutlich vom Bankensektor: Europa will mehr davon. Solange Bohrungen in ihrem eigenen Hinterhof für die meisten Europäer überhaupt nicht in Frage kommen, werden diversifizierte nicht-russische Gasimporte sowie Wind- und Solarenergie die langfristigen Wege der Region zu Energiesicherheit und Unabhängigkeit sein.

Für Anleger gibt es einen gewissen Trost. Während Europa alles tun wird, um die nächsten Winter zu überstehen, ist es unwahrscheinlich, dass neue Vorschriften die Renditen der Energieversorger so stark drosseln werden wie damals die Gewinne der Banken nach 2008. Die Verantwortlichen wissen nämlich nur zu gut, dass sie für den Aufbau eines neuen, sauberen Energiesystems erhebliches privates Kapital anziehen müssen.

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September 22, 2022 03:25 ET (07:25 GMT)