FRANKFURT (dpa-AFX) - Die Europäische Zentralbank (EZB) hat am Donnerstag auf der ersten Sitzung unter Leitung von Christine Lagarde wie erwartet ihre Zinsen nicht angetastet. Auch sonst wurde die Geldpolitik nicht verändert. Lagarde kündigte zudem eine Überprüfung der geldpolitischen Strategie an, die im Januar beginnen soll. Das sagen Experten zu den Beschlüssen:

Stefan Große, Chefvolkswirt NordLB:

"Die ultra-expansive Geldpolitik verharrt im aktuellen Gang. Damit bleiben die Zinsen auf Sicht erst einmal sehr niedrig. Kurzfristige Impulse werden wohl eher von geopolitischen Ereignissen gesetzt. Das Ankaufprogramm hält die Anleihen weiter teuer, die Diskussion wird aber im Jahresverlauf zunehmen. Die Evaluation der Strategie könnte Änderungen in der Mikrosteuerung des Ankaufprogrammes mit sich bringen und wird zukünftig im Fokus unserer Aufmerksamkeit stehen. Die Hauptschlagrichtung Lagardes wird aber darin liegen, die Politik mehr in die Verantwortung zu nehmen für die Konjunktur der Eurozone."

Uwe Burkert, Chefvolkswirt und Leiter LBBW Research:

"Das Introductory Statement war noch ganz im gewohnten EZB-Stil. Mit den kaum veränderten Projektionen und den leicht gesunkenen Abwärtsrisiken ist eine weitere Zinssenkung weniger wahrscheinlich, wenn auch noch nicht ausgeschlossen. Neu ist die Art, wie Lagarde die Initiative an sich gerissen hat. Wir werden 2020 eine umfassende Strategiediskussion bekommen. Die EZB wird danach nicht mehr dieselbe sein wie zuvor, wenn man sich den Zielkatalog und den Kreis der Beteiligten anschaut. Das Inflationsziel steht im Mittelpunkt, soviel ist klar. Aber Technikfolgen, Klimawandel und Ungleichheit sollen ebenfalls eine Rolle spielen. Zudem wird die EZB nicht nur in Professorenzirkeln Meinungen einholen. Eines ist jetzt schon klar: Die ECB-Watcher werden 2020 eine Menge zu tun bekommen."

Stefan Kooths, Leiter des Prognosezentrums am Institut für Weltwirtschaft:

"Eine Änderung der Geldpolitik war in der ersten Sitzung nicht zu erwarten, die Signale der neuen EZB-Chefin Christine Lagarde weisen bislang aber in die richtige Richtung. Insbesondere zeigt sie sich aufgeschlossen für die Argumente aller Seiten, was die Spaltung im EZB-Rat überwinden helfen könnte. Solange es dort keinen Konsens über die künftige Ausrichtung der Geldpolitik gibt, wird der Euro-Währungsraum den Dauerkrisenmodus nicht überwinden. Insbesondere dürfte unter der neuen EZB-Präsidentschaft den unerwünschten Nebenwirkungen der ultraexpansiven Geldpolitik endlich mehr Beachtung geschenkt werden."

Jan Holthusen, Leiter Fixed Income Research, DZ Bank:

"Für die nächsten Monate gehen wir davon aus, dass die EZB ihre Politik der ruhigen Hand weiter fortsetzt. Die Leitzinsen dürften nicht angetastet werden, solange, beispielsweise durch eine dramatische Eskalation des Handelskonflikts, keine deutliche Verschlechterung des fundamentalen Umfelds eintritt. Nach Aussage von Lagarde wird sich an der strategischen Ausrichtung auch nicht viel ändern, bevor der Review abgeschlossen ist. Also erstmal ein 'Weiter-so' in 2020."

Thomas Gitzel, Chefvolkswirt der VP-Bank:

"Spannend wird es deshalb, wenn die EZB ihre geldpolitische Strategie bereits im Januar auf die Agenda nimmt. Möglicherweise steht ja dann tatsächlich eine Abkehr von der Negativzinspolitik an. Mögen Negativzinsen in den vergangenen Jahren richtig gewesen sein, so heißt dies nicht, dass sie es heute auch noch sind. Christine Lagarde ist also möglicherweise aufgefordert, den Flammenwerfer gegen den Löschschlauch einzutauschen."

Otmar Lang, Chefvolkswirt der Targobank:

"Es wird bereits jetzt ersichtlich, dass Frau Lagarde ihre Rolle als EZB-Präsidentin wahrscheinlich mehr als Politikerin und weniger als Zentralbankerin ausfüllen wird. Sie ist bei ihrer grünen Offensive in den letzten Wochen ruhiger geworden und hat auch richtig erkannt, dass die EZB eine immense Verantwortung hat. Es bleibt zu wünschen, dass sie die von ihr kürzlich zitierte Redensart: 'Das Vertrauen kommt zu Fuß, aber verschwindet bisweilen auf Pferden' selbst beherzigt."/jsl/jkr/stw