Von Georgi Kantchev

LUDWIGSHAFEN (Dow Jones)--Über Jahre hinweg hat die BASF SE, eines der größten Chemieunternehmen der Welt, ihr Geschäftsmodell auf billigem und reichlich vorhandenem russischen Erdgas aufgebaut, das sie zur Stromerzeugung und als Ausgangsstoff für Produkte einsetzt, die in Zahnpasta, Medikamenten und Autos verwendet werden.

Heute erweisen sich die schwindenden russischen Gaslieferungen als Bedrohung für das riesige Produktionszentrum des Unternehmens in Ludwigshafen - der weltweit größte integrierte Chemiekomplex mit rund 200 Anlagen. Anfang des Monats hat Russland damit begonnen, seine Gaslieferungen an Deutschland und andere europäische Länder zu drosseln. Als Reaktion tun die BASF-Führungskräfte etwas, was noch vor wenigen Monaten undenkbar gewesen wäre: Sie überlegen, wie sie den Komplex möglicherweise stilllegen können, falls die Gaslieferungen weiter zurückgehen.

Die Gefahr droht nicht nur BASF und den 39.000 Mitarbeiter in Deutschland. Da BASF und andere Chemieunternehmen am Anfang der meisten industriellen Lieferketten stehen, würde ihre Beeinträchtigung weit über den Sektor hinaus ausstrahlen und die europäische Wirtschaft in einer Zeit hoher Inflation und verlangsamten Wachstums belasten. Eine Drosselung der Ammoniakproduktion, einem wichtigen Bestandteil von Düngemitteln, durch BASF könnte nach Ansicht von Analysten die zunehmende Nahrungsmittelkrise in der Welt verschärfen.

"Die Produktion hier zu stoppen, wäre eine Mammutaufgabe", sagte Peter Westerheide, BASF-Chefvolkswirt, in einem Büro mit Blick auf das dichte Netz von Pipelines, Anlagen und Eisenbahnlinien in Ludwigshafen. "Eine solche Situation haben wir noch nie erlebt", sagte er. "Es ist schwer vorstellbar."

Die Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas hat zugenommen, nachdem mehrere Regierungen nacheinander beschlossen, die letzten Kernkraftwerke zu schließen und die Stromerzeugung aus Kohle auslaufen zu lassen, so dass nur noch Gas und erneuerbare Energien als Alternativen zur Verfügung stehen. Viele Haushalte in Deutschland heizen mit Gas, und das Land beherbergt den größten produzierenden Sektor in Europa, der ein unersättlicher Verbraucher des Energieträgers ist.

Am vergangenen Donnerstag hat Berlin die zweite Stufe eines dreistufigen Notfallplans für Gas ausgerufen, der in seiner letzten Stufe die Gaslieferungen an einige Unternehmen unterbrechen könnte. Der Schritt erfolgte, nachdem Russland die Lieferungen nach Deutschland über die Nord-Stream-Pipeline auf 40 Prozent ihrer Kapazität reduziert hatte. Moskau machte fehlende Turbinenteile aufgrund von Sanktionen für die Lieferausfälle verantwortlich. Deutsche Regierungsvertreter und Politiker bezeichneten dies als ökonomischen Angriff. Deutschland bezieht derzeit etwa 35 Prozent seiner Gasimporte aus Russland, vor dem Ukraine-Krieg waren es rund 55 Prozent.


   Keine kurzfristige Alternative 

Chemieunternehmen wie BASF sind stärker gefährdet als andere Industrieunternehmen, da Erdgas für die meisten ihrer Prozesse unerlässlich ist. Etwa 60 Prozent des Gases, das BASF in Europa verbraucht, wird für die Strom- und Dampferzeugung verwendet. Die anderen 40 Prozent werden als Rohstoff für die Produkte verwendet.

Am BASF-Standort Ludwigshafen - einer Stadt in der Stadt mit gut 100 Kilometern Straße, etwa acht Restaurants und einem Weinkeller - wird Erdgas in ein kompliziertes System von Rohren und Zapfstellen geleitet, um Anlagen zu erreichen, die Ammoniak herstellen oder Acetylen, eine Verbindung, die in Kunststoffen und Arzneimitteln verwendet wird. Der Standort ist für bis zu 4 Prozent des deutschen Gasbedarfs verantwortlich.

"Um es klar zu sagen: Es gibt keine kurzfristige Lösung, um Erdgas aus Russland zu ersetzen", sagte BASF-Chef Martin Brudermüller im April.

Das Herzstück des Betriebs in Ludwigshafen sind zwei Steamcracker, von denen einer eine Fläche von der Größe von 13 Fußballfeldern einnimmt. Diese großen Öfen, die in der Regel mit Erdgas betrieben werden, "spalten" Naphtha, ein Erdölprodukt, in die Grundbestandteile für die weitere Produktion.

Das Management geht davon aus, dass der Betrieb aufrechterhalten werden kann, wenn die Gasversorgung über 50 Prozent der maximalen Nachfrage in Ludwigshafen liegt, indem die Last reduziert und Ersatzstoffe eingesetzt werden. Sollte die Gasversorgung über einen längeren Zeitraum deutlich darunter liegen, müsste man die Produktion einstellen, teilte das Unternehmen mit. Die Gefahr von Gasrationierungen wächst, und Russland wird wahrscheinlich weiterhin seine Gaslieferungen drosseln, sagen deutsche Regierungsbeamte und Analysten.

An Standort Ludwigshafen ist rund ein Drittel der gesamten BASF-Belegschaft beschäftigt. Auch wenn Chemieanlagen ihre Produktion für geplante und behördlich vorgeschriebene Wartungsarbeiten unterbrechen, kann eine sofortige Abschaltung des gesamten Komplexes zu gravierenden Schäden an der Anlage und erheblichen Sicherheitsrisiken führen.

"Alles ist miteinander verbunden und hängt von anderen Teilen des Komplexes ab", sagte Chefvolkswirt Westerheide. "Die Kosten für das Anhalten und Anfahren sind hoch. Das ist ein Extremszenario, das wir unbedingt vermeiden wollen."

Da Gas immer knapper und teurer wird, sucht BASF händeringend nach Alternativen - und stellt fest, dass es kurzfristig nur wenige gibt. Nach Angaben des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI) benötigt der Chemiesektor, der größte industrielle Gasverbraucher in Deutschland, rund 135 Terawattstunden Gas pro Jahr. Die Industrie könne nur zwei bis drei Terawattstunden durch den Einsatz alternativer Brennstoffe einsparen, so der VCI.


   Der Blick geht nach China 

Längerfristig arbeitet BASF daran, die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu verringern, indem der Konzern die Energieeffizienz erhöht und die Energieversorgung auf erneuerbare Energien umstellt. Im vergangenen Jahr hat das Unternehmen in einen Offshore-Windpark investiert und langfristige Lieferverträge für Ökostrom abgeschlossen. Doch obwohl es technisch möglich ist, gasbetriebenen Strom zu ersetzen, reicht das Angebot an erneuerbaren Energien noch nicht aus, um die Nachfrage zu decken, wie Analysten sagen.

Was die Rohstoffe angeht, so hat BASF Pilotprojekte für das Recycling von Chemikalien durchgeführt und verwendet zunehmend Rohstoffe aus Biokraftstoff, einschließlich Biomethan. Mit diesen Maßnahmen ist es nach Ansicht von Analysten jedoch nicht möglich, fossile Brennstoffe in großem Maßstab zu ersetzen.

"Kurz- und mittelfristig bräuchte BASF immer noch Gas", sagt Arne Rautenberg, Fondsmanager bei Union Investment, einem BASF-Investor. "Daran führt eigentlich kein Weg vorbei."

Angesichts der Herausforderungen in Europa blickt das Unternehmen zunehmend nach China. Es baut bereits eine 10 Milliarden US-Dollar teure Produktionsstätte im südchinesischen Zhanjiang. China, der größte und am schnellsten wachsende Chemiemarkt der Welt, ist nach Angaben des Unternehmens von zentraler Bedeutung für seine Wachstumsstrategie. Die hohen Energiekosten in Europa und der Wirtschaftskrieg mit Russland machen diesen Schwerpunkt noch attraktiver.

Die Umstellung auf China wird jedoch auch Zeit in Anspruch nehmen - laut Factset erwirtschaftet das Unternehmen derzeit etwa 14 Prozent seines Umsatzes in China, verglichen mit etwa 40 Prozent in Europa - und sie birgt politische Risiken.

Die Bundesregierung hat angesichts der Besorgnis im Westen über Pekings autoritäre Tendenzen im Inland und sein aggressiveres Auftreten im Ausland ein umfassendes Umdenken in Bezug auf ihre Beziehungen zu China eingeleitet. Dieser Wandel, der darauf abzielt, Deutschlands strategische und wirtschaftliche Abhängigkeit von Peking zu verringern, hat sich seit Russlands Einmarsch in die Ukraine, den China nicht verurteilt hat, beschleunigt.

"Man muss dort sein, wo der Markt ist, und China ist ein riesiger Chemiemarkt", sagt Sinischa Horvat, BASF-Betriebsratsvorsitzender. "Aber man muss auch abwägen: Mache ich mich noch abhängiger von etwas oder bin ich in einem gesunden Gleichgewicht? Das wird die Herausforderung für die Zukunft sein."

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June 27, 2022 06:40 ET (10:40 GMT)