Von Joe Wallace

LONDON (Dow Jones)--Ein waghalsiges Geschäft ist derzeit unter Rohstoffhändlern beliebt. Es geht um die Lagerung von Erdgas in unterirdischen Kavernen der kriegsgeschüttelten Ukraine. Händler wie Trafigura, Vitol und Gunvor könnte mit dieser Wette hunderte Millionen US-Dollar machen, berichten mit der Angelegenheit vertraute Personen. Mitverdienen wollen überdies Öl- und Gasgiganten wie Shell und Versorger wie Axpo aus der Schweiz.

Händler werden derzeit dafür bezahlt, dass sie vor dem Winter Vorräte an Brennstoffen zum Heizen und für die Stromerzeugung in Europa anlegen. Eine Situation wie im Vorjahr soll vermieden werden, als Russland nach und nach seine Gaslieferungen drosselte und den Kontinent in eine Energiekrise stürzte. Zuletzt ist so viel Gas aus aller Welt nach Europa geflossen, um russische Lieferungen zu ersetzen, dass die Preise im vergangenen Jahr um mehr als 80 Prozent gefallen sind. Das wird den Handel lukrativ machen, wenn alles gut läuft.

Die Gefahr besteht für das Ukraine-Geschäft nicht darin, dass sich das Gas in Rauch auflösen könnte. Eingelagert wird im Westen der Ukraine in mehr als 1,5 Kilometern Tiefe in ausgebeuteten Gaslagerstätten und Grundwasserleitern, größtenteils abseits der Front. Doch die Gewinne der Händler könnten verpuffen, sollten russische Granaten Pipelines oder Verdichterstationen treffen, so dass das Gas nicht gen Westen fließen kann.

Martin Pich, Handelschef beim tschechischen Energieunternehmen MND, führt überdies das Risiko an, dass die urkrainische Regierung für den Fall einer Verschlechterung der eigenen Energieversorgung sagt: "Wir müssen das Gas leider beschlagnahmen". Wer bei diesem Deal dabei sei, der betrachte den potenziellen Gewinn in Relation zu den Verlusten, die bei einem der Negativszenarien entstehen könnten.

Die Gaszuflüsse in ukrainische Kavernen, die mit Abstand größten Speicher dieser Art in ganz Europa, haben in den vergangenen Wochen deutlich Fahrt aufgenommen. Geliefert wird aus der ganzen Welt. Ein Teil wird als verflüssigtes Erdgas per Schiff aus den USA und aus Nigeria in das europäische Pipelinenetz eingespeist. Weitere Mengen kommen direkt von den riesigen Gasfeldern vor Norwegen und Großbritannien. Restmengen an Gas liefert sogar Russland. Es fließt in die Slowakei und macht dort praktisch eine Kehrtwende über die Grenze zurück in die Ukraine.


 Das Risiko des Gasmangels in Europa bleibt 

Der Gasfluss hat sich beschleunigt nach einigen Treffen zwischen europäischen Energiehändlern und Vertretern der staatlichen ukrainischen Energiefirmen. So hielt der Betreiber des Gasfernleitungsnetzes der Ukraine, GTS, Mitte Juni in Wien eine Präsentation ab. Dort machte er deutlich, dass sein Pipelinenetz wegen rückläufiger russischer Gaslieferungen über freie Kapazitäten verfügt, wie ein Insider sagte.

Sollte es zu Blockaden kommen, so GTS-Generaldirektor Dmytro Lyppa, könne man das Gas umleiten, so dass die Händler es außer Landes bringen könnten. "Wir sind auf jedes Szenario vorbereitet", sagte er.

Die in der Ukraine eingelagerten Gasmengen sind gleichwohl kleiner als vor Kriegsbeginn. Händler haben sowohl Schwierigkeiten, Brennstoffe in einem Kriegsgebiet zu versichern als auch Banken davon zu überzeugen, ihnen für ein solches Geschäft Kredit zu geben. Vertreter der Ukraine sagen, sie erwarteten, dass ausländische Händler bis zum Winter 3,5 Milliarden des verfügbaren Kavernenvolumens von 10 Milliarden Kubikmeter nutzen würden.

Diese Menge könnte sich als zusätzlicher Puffer für die Versorgungssicherheit der Europäischen Union erweisen. Denn bei dieser Menge würde die Speicherkapazität um fast 4 Prozent steigen. Europa bleibt aber verwundbar. Die Abhängigkeit vom russischen Versorger Gazprom wurde gegen eine Abhängigkeit vom Markt für Flüssigerdgas getauscht.

Die Einlagerung von Gas in der Ukraine ist eine Variante des klassischen Rohstoffhandels. Er erlangte an der Wall Street notorische Berühmtheit, als Salomon Brothers kurz vor dem Ersten Golfkrieg in den frühen 1990er-Jahren sich mit eingelagertem Rohöl auf Tankern eine goldene Nase verdiente. Nötig war dazu eine große Bilanzsumme, logistisches Wissen und - in diesem Fall - Risikobereitschaft.

Das aktuelle Geschäft funktioniert so: Die Gaslager in der EU sind schon so gut gefüllt, dass Händler den Brennstoff jetzt günstig kaufen und auf dem Terminmarkt zu höheren Preisen weiterverkaufen können, um ihn im Winter oder noch später auszuliefern. Zuletzt konnten sie so mehr als zehn Euro pro Megawattstunde verdienen, sagt Marco Saalfrank, der Leiter des Handelsgeschäfts von Axpo. Berücksichtigt sind in dieser Rechnung Lager- und Transportkosten sowie Zinsen und Kreditgebühren. Bei 3,5 Milliarden eingelagerten Kubikmetern Gas entspricht das einem potenziellen Gewinn von mehr als 340 Millionen Euro. Die tatsächliche Zahl wird jedoch abweichen. Einige Händler lagern für den Verkauf im nächsten Sommer ein oder planen keinen Verkauf, setzen also auf steigende Preise.


 Ukraine buhlt um die Gashändler 

Die an dem Deal beteiligten Unternehmen pflegten überwiegend schon vor dem Krieg umfangreiche Geschäftsbeziehungen in die Ukraine. Shell unterzeichnete 2013 einen Vertrag zur Erkundung von Schiefergas in dem Land. Vitol, der weltweit größte unabhängige Ölhändler aus London, schloss 2012 einen Vertrag zur Erschließung von Öl- und Gasfeldern in der Ukraine ab. Der Schweizer Händler Trafigura unterhielt eine Niederlassung in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Die beiden Händler - erbitterte Konkurrenten - suchen nach neuen Möglichkeiten, Geld zu verdienen, nachdem sie in den zurückliegenden Jahren an Verwerfungen aus Krieg und Pandemie Milliarden Dollar gemacht haben. Ukrtransgaz, der Kavernenbetreiber des Landes, habe seine Anlagen von Ungeziefer gereinigt, zusätzliche Patrouillen an Umzäunungen angeordnet und sich mit Ersatzteilen eingedeckt, erläutert Generaldirektor Roman Maliutin.

Das Unternehmen behandelt seine vielen Kavernen wie ein einziges großes Lager und garantiert den Händlern den Zugang zu Gas auch dann, wenn die Lagerstätte beschädigt wird, wo sie ihr Gas ursprünglich eingefüllt haben. „Die Wahrscheinlichkeit, dass alle unsere Untergrundspeicher aus der Produktion genommen und zerstört werden, ist sehr gering", versichert Maliutin.

Dass nun Gas aus Polen, Ungarn, der Slowakei und Moldawien in die Ukraine fließt, markiert eine Wende in der bisherigen Rolle der früheren Sowjetrepublik, die über Jahrzehnte der Korridor für russische Gaslieferungen nach Europa war. Die unterirdischen Speicher sind das Erbe dieser Handelsroute. Gazprom hat sie einst angelegt, um die Exporte nach Europa im Winter aufstocken zu können, sodass Städte in der Ostukraine in den kältesten Monaten des Jahres frisches russisches Gas aus dem Pipelinenetz ungehindert nutzen konnten.

"Händler kommen derzeit ohne zusätzliche Versicherung in die Ukraine", sagte Oleksiy Chernyshov, der Chef des staatlichen Energiekonzerns Naftogaz. "Faktisch bewerten sie ihr Risiko also nur als kommerzielles Risiko." Das sei ein "großartiges Signal", findet Chernyshov. Kiew würde niemals in Erwägung ziehen, das Gas zu beschlagnahmen, fügte er hinzu. Die Kavernen seien "derzeit der sicherste Ort in der Ukraine".

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August 16, 2023 05:57 ET (09:57 GMT)