MÜNCHEN (dpa-AFX) - Der Industriekonzern Siemens häutet sich weiter. So haben die Münchener mit ihrem Chef Joe Kaeser die größte Transformation seit Jahren angestoßen. An deren Ende soll ein Digitalkonzern stehen. Mit dem aktuellen Sorgenkind, der Energiesparte, verfahren die Münchner nach altbewährtem Rezept: Es soll an die Börse. Was bei Siemens los ist, was Analysten sagen und was die Aktie macht.

DIE LAGE BEI SIEMENS:

Siemens hat in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Wandlungen hinter sich und es dabei zur Meisterschaft darin gebracht, sich von wackelnden oder nicht mehr ins Konzept passenden Geschäften zu trennen. Die Börsengänge des Chipkonzerns Infineon, die Ausgliederung und Börsennotierung des Lichtkonzerns Osram, die Trennung vom Telekommunikationsgeschäft und der Ausstieg aus dem Haushaltswarengeschäft gehörten dazu. In den letzten Jahren erfolgten zudem der Zusammenschluss des Windgeschäfts mit Gamesa sowie der Börsengang der Medizintechniksparte Siemens Healthineers.

Jüngster Coup: die Energiesparte mit ihrem seit längerem schwächelnden Geschäft mit großen Gasturbinen. Mit der Entscheidung, sich von seinem Energiegeschäft zu trennen, kappt Siemens einen Teil seiner Wurzeln. Die DNA der Münchener wird mit der Konzentration auf die wachstumsträchtigen digitalen Geschäfte grundlegend verändert.

Seine neu zum 1. April formierte Energiesparte Gas and Power will das Unternehmen ausgliedern und bis September 2020 an die Börse bringen. Siemens-Aktionäre sollen dabei entsprechend Anteile an der neuen Gesellschaft erhalten. Siemens geht dabei jedoch noch einen Schritt weiter: Der Konzern will seinen Anteil von 59 Prozent an dem Windradhersteller Siemens Gamesa in die neue Gesellschaft einbringen. Dabei will Siemens die Mehrheit an dem neuen Unternehmen abgeben, aber Ankeraktionär bleiben und auf Sicht die Sperrminorität von 25 Prozent nicht unterschreiten.

Damit trennt sich Siemens auch von seinem derzeit größten Sorgenkind: dem Kraftwerksgeschäft. Vor allem bei großen Gasturbinen war in den letzten Jahren der Markt weggebrochen. Siemens läutete ein Sparprogramm ein, das den Abbau von Kapazitäten und die Streichung tausender Stellen umfasst. Siemens Gamesa entstand 2017 aus der Fusion der Siemens-Windkraftsparte mit dem spanischen Konkurrenten Gamesa. Hier verlief der Start eher holprig, der Windmarkt leidet weiterhin unter Preisdruck. Auch bei Siemens Gamesa wurden tausende von Stellen gestrichen.

Siemens will sich künftig auf seine Wachstumsfelder konzentrieren: Kerngeschäfte werden künftig die Sparten Digital Industries sowie Smart Infrastructure sein. In den Märkten Automatisierung, industrielle Digitalisierung und intelligente Infrastruktur will Siemens deutlich zulegen und seine Stellung weiter ausbauen. Flankiert werden sie von der börsennotierten Mehrheitsbeteiligung Siemens Healthineers sowie der Bahntechnik. Nach der gescheiterten Fusion mit dem französischen Bahnkonzern Alstom prüft Siemens verschiedene Optionen für das Geschäft, Chef Kaeser sieht jedoch keine Eile für eine Entscheidung. Früheren Aussagen zufolge ist auch hier ein Börsengang eine Option.

Die jetzt gefällte strategische Neuausrichtung ist Teil des Programms "2020+", welches Siemens in Grundzügen bereits im vergangenen Sommer vorgelegt hatte, um Wachstum und Profitabilität anzukurbeln. Siemens wolle "proaktiv agieren, bevor wir reagieren müssen", so das Credo Kaesers. Denn der Konzern, der auf keinen Ankeraktionär zur Unterstützung setzen kann, kann derzeit noch auf eine recht robuste Geschäftsentwicklung bauen.

Wie schnell ein Unternehmen zum Getriebenen werden kann, zeigt dabei die Entwicklung beim Essener Traditionskonzern Thyssenkrupp. Dieser vollführte mehrfache Volten bei der Strategie - angefacht durch einen Streit mit seinem Großaktionär, dem schwedischen Finanzinvestor Cevian, und zusätzlich unter Druck gesetzt durch eine schwache Geschäftsentwicklung.

DAS SAGEN ANALYSTEN:

Analysten befürworten die Entwicklung bei Siemens, weil sich nun herausschält, wofür der Technologiekonzern künftig stehen soll. Für Andreas Willi von JPMorgan bedeutet das für Siemens die größte Umwälzung seit dem Ausstieg aus der Telekommunikation im Jahr 2006. Dies könnte den derzeit herrschenden Konglomeratsabschlag bei der Siemens-Aktie reduzieren, den der Analyst bei 35 Euro (und damit rund einem Drittel des Aktienkurses) sieht. Die Ausrichtung auf das digitale Kerngeschäft ist dabei seiner Ansicht nach für Investoren besser einsehbar. Der Weg in Richtung einer einfacheren Konzernstruktur, bestehend aus attraktiven Geschäften, zeige sich zunehmend deutlicher. Die Energiesparte sieht er allerdings weiter kritisch: Die Ausgliederung ändere nichts an den fundamentalen Herausforderungen, in dem sich das Geschäft befände.

Die Ausgliederung der 30 Milliarden Euro schweren Energiesparte sei "ein ganz großer Schritt in der Geschichte von Siemens", findet Analyst Ben Uglow von der US-Investmentbank Morgan Stanley. Das Unternehmen sei nun fokussiert auf die profitablen Felder Automation und Infrastruktur. Peter Reilly vom Analysehaus Jefferies nannte den Weg "vielversprechend". Die Maßnahmen seien radikaler als von ihm erwartet. Dies dürfte sowohl für Aktionäre, Angestellte und Kunden von Vorteil sein. Auch Sven Diermeier nannte den Umbau "deutlich umfassender" als gedacht.

DAS MACHT DIE AKTIE:

Die Ankündigung von Siemens Anfang Mai hatte die Aktie des Technologiekonzerns an dem Tag kurzfristig auf den höchsten Stand seit sieben Monaten steigen lassen. Dennoch kommt die Siemens-Aktie in diesem Jahr bislang kaum vom Fleck. Mit einem Kursplus von etwas über 9 Prozent belegt die Siemens-Aktie einen Platz im Mittelfeld des Dax. Der Index gewann im Jahresverlauf bisher mehr als 14 Prozent, Topwert ist der Sportartikelhersteller Adidas mit einem Plus von gut 38 Prozent.

Dabei ist eine Mehrheit der im dpa-AFX Analyser erfassten Experten der Aktie gegenüber positiv eingestimmt und empfiehlt sie zu kaufen. Lediglich ein Institut rät zum Verkauf./nas/mne/fba